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Berlin, Berlin
Notizen auf Incal, 2003-200525.12.2005 Ein Friedhofsbesuch. Man trifft Verwandte und hält am Grab einer streitbaren Dorfgröße inne: »Der hier war auch nicht ohne« - »Hat hier seine Sachen gemacht, da sein Verdienstkreuz wechgeholt...« - »War 'ne alte Eiche!« - »Aber vertragen hat er sich in der letzten Zeit ja doch!« ... »Man muß praktisch denken« - »Buchsbaum ist Mist« - »Man muß was nehmen, was langsam wächst«. Ja, man kann bis zuletzt alles richtig machen, und es danach doch noch vermasseln. 22.12.2005 Comic-Aufführung in Hannover. Gegeben wird Das Wunder der Geburt, in der weiblichen Hauptrolle die Behrens. Intendant Schütte kuschelt derweil mit hanseatischen Chemie-Experten, und mehrere Herren tauschen ihre Erfahrungen betreffs erbitterter Feindseligkeiten zwischen weiblichen Untergebenen aus. Man hat Personal, heutzutage. Und sogar die IKEA-Möbel wirken langsam etabliert... Morgens weckt uns dann das Wunderkind. 17.12.2005 Martins Firma Robowatch hat Glück: Das Revolverblatt The Sun hält die harmlosen kleinen Vollplastikmobile der Firma für Panzer, die bei der kommenden Fußball-WM gegen England (!) bzw. englische Hooligans eingesetzt werden könnten. Die Leser sind allerdings begeistert: »They're a great idea! If the game gets a little boring, the German FA cup order the tanks on-field to spice things up a bit«. Das mindeste, was Robowatch jetzt tun kann, ist eine großzügige Spende an die Image-Agentur »Erwin Rommel«. Peter Tours - Zunächst in die Sowjetunion: Die moderne russische Frau läuft in ihrer Heimat noch aussagekräftiger herum als bei uns auf dem Ku'damm, wie unser Mann aus dem Kreml berichtet, der Iwan benötigt für Hochzeiten neuerdings mehrere Stretch-Limousinen, hat dafür aber auch Stalins Paläste frisch gestrichen... und die Kaviarpreise haben stark angezogen. Dann nach China. Wir essen gerade die Vorspeise - knurpsigen Quallensalat mit Chili - als uns die Bedienung mandarinisch mitteilt, daß Rindermagen aus sei, und fragt, ob wir auf Schweineohren ausweichen würden. Aber immer, obwohl Magenknappheit ja etwas paradox ist. Und dazu einen schönen scharfen Feuertopf. Eigentlich könnte man danach mal ins Bett gehen, gegen eins steht allerdings noch Holland auf dem Programm. Erst brauchen wir aber eine Erfrischung und ordern Mad Dogs, Tabasco mit Wodka und Grenadine. Der Barmann leidet allerdings unter Tabascoknappheit, und so geht es amerikanisch mit (viel zu viel) Eistee von der langen Insel weiter, bis wir uns endlich der niederländischen Minimal-Elektronik widmen können. Uff. 16.12.2005 NoJazz (s.u.) wurde mir übrigens vor Jahren von einer DJane namens Leslie Nachmann ans Herz gelegt, und ich stelle fest, daß sie noch immer freitags von sieben bis null Uhr ihre Sendung im JazzRadio macht und dabei sogar per Webcam zu beobachten ist, leider aber auch eine neue E-Mail-Adresse hat. Peter Tours - Peter ist wieder im Land. Wir müssen also tanzen gehen. Der Tresor ist dicht. Cafe Moskau, Mudd Club, Cookies, der Bastard und das Rio im Moment scheinbar auch. Im Icon und im Sage Club gibt es gerade die falsche Musik. Wäre Leni Riefenstahl so um die 30 Jahre alt und Fan elektronischer Musik - sie hätte einen Lieblingsclub: das Berghain, schreibt das Stadtmagazin tip darüber. Das klingt interessant, aber nach einem Blick auf die Webseite des Ladens bekommen wir doch ein wenig Angst. Was ist denn das hier, Week-End-Club: Als junger, aufstrebender Medienmitarbeiter, Popliterat, Jungschauspieler oder gekonnter Selbstdarsteller ist man hier am richtigen Fleck. Das ist bestimmt ironisch gemeint. Wir setzen also Bill-Murray-Minen auf und ziehen los, kommen aber nur bis zum Türsteher. Ob wir eine Einladung hätten. Netter Trick! Zwei Minuten später fallen uns etwa 20 gute Paraden ein, aber Nachschlagfertigkeit hilft ja nicht. Und so enden wir bei belangloser Musik zwischen 500 spanischen Touristen im Kaffee Burger und überlegen, den dortigen Türsteher mal nach Verdienst und Aufstiegschancen zu fragen (Obertürsteher, Türbannführer, General der Türleute?). 13.12.2005 noJazz gibt ein Konzert im Tränenpalast und beginnt, ein neueres Stück zu spielen. Eine Frau im Publikum kennt es schon und jubelt laut. Erfreuter Kommentar des Schlagzeugers: »Ah, you already downloaded the new album!«. Die Atmosphäre ist fast familiär, und in einem kleinen stickigen Laden wäre ein legendärer Tanzabend draus geworden. So aber bleiben die spex-Redakteure auf der sicheren Tribüne und an den deplazierten Stehtischen und beobachten nur. 9.12.2005 Neues aus dem Veranstaltungsprogramm: »Jetzt hat das Ensemble Jean Tardieus 50er-Jahre-Stück Die Liebenden in der Untergrundbahn inszeniert, das absurde Züge enthält«. Na, das will ich doch hoffen! 29.11.2005 Während man sich anderswo mit Transzendentalpragmatik aufhält, findet in der F-Bronx der nächste Asia-Filmabend statt. Unterwegs fragt mich übrigens eine ältere Russin höflich, wie man zum Alexandria-Platz komme. Ich erkundige mich wenig später nach dem Programm. Traditionell bekommt man die Auskunft, der diesmal vorgeschlagene Film sei krass, und es stimmt immer - heute ist das allerdings besonders wahr. Wenn ein japanischer David Lynch eine Mischung aus Godzilla und der Fliege drehen sollte, das Ergebnis könnte nicht rätselhafter, unangenehmer und vor allem nicht cooler sein als Tetsuo - The Iron Man. Am Ende und nach einer bemerkenswerten Verfolgungsjagd schließen sich die mit Schrottmonster nur mangelhaft charakterisierten Gegenspieler zusammen (»Let's rust the world together!« - »Sounds like fun«), um als Doppelmonster mit Raketenfuß durch die Städte zu donnern. Mein Fazit: Sugoi! 27.11.2005 Wir machen einen Abstecher über den Weihnachtsmarkt am Palast der Republik. Technisch gesehen ist das ein komplettes Schützenfest mit Schiffsschaukeln, Plüschtier-Losbuden, Fischbrötchen und Zuckerwatte, bei dem allerdings zwischen den Ständen ein paar Tannen stehen und zusätzlich zur bereits sehr eindringlichen Kirmesmusik alle naselang Last Christmas gespielt wird. Man hat an praktisch alles gedacht - nur die Fünffachloopingbahn vom Oktoberfest fehlt. Drei Helfer in neongelben Westen verzehren halbmeterlange Bratwürste. Auf der Rückseite ihrer Westen steht Tierrettung (»Wir mußten sie essen, um sie zu retten«?). Und hinter Zuckerwatteständen, Wurfbuden und einem Meer dieser speziell geformten bunten Jahrmarktglühbirnen ragen blaß der Dom und die Palastruine auf. Der für Kunstprojekte genutzte Palast muß übrigens so schnell wie möglich weg, dieser Schandfleck (Stolpe, Wowereit). Man möchte ihn durch eine Wiese ersetzen. Und vielleicht ist dann ja endlich Platz für die Loopingbahn. Ich habe einen Alptraum, ganz unerwartet. Darin werde ich verpflichtet, den Job als Ansager der Menschenschleudermaschine Ikarus 2000 auszuüben und täglich 16 Stunden lang ins Mikro zu nuscheln: »Und jetzt gibt's wieder Stimmung, jetzt gibt's wieder Action«... Ein anderer Alptraum geht so: man sieht aus wie Bill Murray, fühlt sich, wie Bill Murray aussieht, und hangelt sich durch den nicht enden wollenden Schützenfest-Parcours der Geschmacklosigkeiten, um zurück zum einzigen Ausgang zu gelangen. Ist man dort angekommen, so beginnt alles wieder von vorne. 26.11.2005 Der Abend ist fortgeschritten. Wir legen einen Film ein. Und schon nach 10 Sekunden weiß ich, daß er wirklich von David Lynch stammt - es ist die Musik, ein ganz eigenes Genre. Der Grund für die periodischen Leiergeräusche könnte allerdings auch das Alter der Videokassette sein. Und als es nach zwei Stunden zu einer Art Happy End kommt, da verstärken sich meine Zweifel. Zeit, nach Hause zu fahren. Wie, und die Russendisko wolle ich nicht mehr fotografieren? Jetzt wäre doch die beste Zeit. Was ist los, McFly - hast Du Schiß? Also gut. Kurz nach vier bin ich im Kaffee Burger. Herr Kaminer ist sehr freundlich und erwartungsgemäß damit beschäftigt, Musik zu machen und das Volk aufzuwiegeln. Leider kann ich mit Kamera nicht mittanzen, bekomme aber den Tip, mal Fotos im Berghain zu machen - das Design wäre Riefenstahl-mäßig. Gut, gut. Ich möchte dann noch ein Bild der Garderobenschlange machen, bitte sogar die beiden Blickfängerinnen darin um Erlaubnis und habe gerade alles klar, als sich ein Schrank formatfüllend ins Bild stellt. Er bemerkt dies, gibt fast ein Drittel des Bildes frei und teilt mir mit, daß er selbst im Mittelformatbereich arbeite. Ich kümmere mich wieder um die Kamera. Daß der Schrank derweil eine Schlägerei mit jemandem anfängt, der sich während seines Gesprächs mit mir »vorgedrängelt« hat, das bemerke ich erst, als ich von weggeschubsten Leuten gerammt werde und die Garderobenfrau den Türsteher um Hilfe ruft. Mittelformat ist eine andere Liga. 25.11.2005 Eine schöne Entdeckung wie die des Verlusts der neuen Monatskarte wird doppelt schön, wenn man sie mit anderen Menschen teilen kann - in diesem Falle drei notorisch liebenswerten Kontrolleuren. Ich stoße auf ein Thema, das nur Spartenmedien einen Bericht wert ist. Unser Bundesrat möchte demnach, ebenso wie Regierung und EU-Kommission, die komplette Telefon- und Internet-Datenspur von 450 Mio. Europäern erfassen, also z.B. wer wann von wo aus welche SMS bekommt, E-Mail abschickt, Internetseite besucht oder Datei zum Tausch anbietet. Nur so sei »eine Verflechtung in kriminellen oder terroristischen Netzwerken lückenlos feststellbar«. Ich finde diese Forderung selbst lückenhaft: Was ist denn mit Verbrechern, die sich konspirative Briefe per Post schicken, sich zum Kinderpornotausch in einem Café treffen oder in einem Baumarkt Teppichmesser zur Flugzeugentführung kaufen? Nein - wir brauchen den Bürgerdatenschreiber, das ist eine implantable Black Box, die sämtliche Bewegungs- und Gesprächsdaten aufzeichnet und periodisch an die Behörden sendet. Dasselbe wäre auch für Geldscheine zu erwägen. Und eventuell die Anpassung unserer beim besten Willen etwas weit gefaßten Grundrechte. 22.11.2005 Ich bekomme einen Artikel über Spielsucht geschickt, und das, wo just der Verkauf von Civilization IV beginnt und ich mich erneut mit längst überwundenen Gegnern des Spieleklassikers Fallout 2... auseinandersetze, könnte man diplomatisch sagen. Kein Problem, so lange ich nicht Armalyte wieder hervorkramen würde! Dann geht es Schlag auf Schlag, »Das sollte er mal, schließlich hat er es noch immer nicht durchgespielt!« - »Wie bitte?! Er hatte 17(!) Jahre Zeit dafür!«, und wir sind bei der Grundsatzfrage: Katakis oder Armalyte? Katakis hat coole Musik, coole Gegner und 12 coole Level. Katakis ist Rock'n'Roll. Und ich halte noch immer die weltweit höchste Highscore. Allerdings ist das Spiel etwas nachlässig programmiert, so daß manche Gegner ab und zu flickern oder kurz verschwinden. Armalyte dagegen ist technisch brilliant. Im Spiel gibt es zwar keine coolen Gegner, überhaupt keine Musik und nur acht eher langatmige Level, aber ich habe es lange für seine Grafik bewundert - bis ich den C64 eines Tages an einen Farbfernseher angeschlossen habe. Das muß vor etwa 16 Jahren gewesen sein. 20.11.2005 Im Weltverbesserungsclub Volkswagen steckt mal wieder in der Krise, und oft wurde die teure und begrenzte Modellpalette kritisiert. Da kann man doch was machen. Neben dem wetterfesten VW Monsun entwerfen wir also den VW Minigolf und malen uns aus, mit Caddy und Buggy den Minigolfparcours in Timmendorfer Strand heimzusuchen. Ausnahmsweise thematisieren wir dann Angela Merkel und die Frage, ob sie für überhaupt irgendetwas steht. Ich denke, daß sie gelernt hat, ihre eigentlichen Standpunkte gut zu verbergen, und schon sind wir bei Subversivität und der Frage, wie man als Ketzer im Mittelalter am besten argumentiert, ohne sich an der katholischen Kirche die Finger zu verbrennen (und nicht nur die Finger!). Natürlich muß man aus dem System der Gegner heraus argumentieren und dieses vor allem scheinbar ernst nehmen. Schön wäre aber auch eine eigene Fernsehsendung, Johannes B. Ketzer, in der man über dies und das, auf keinen Fall aber über Gott und die Welt reden darf. Als weitere Institutionen schlagen wir das gewiß etwas exzentrische Kautabakkollegium sowie die schlagfertig zu besetzende Stelle eines Bundeshofnarren vor. Allerdings ist es angeblich schwer, die aktuelle Politik satirisch noch zu übertreffen, und schlagfertig sind wir selbst immer erst hinterher, genaugenommen also nachschlagfertig. Das sind die meisten Kantinen im Zweifelsfall aber auch. Hm, à propos Zweifelsfall - wäre das nicht ein würdiger neuer Casus für die deutsche Sprache? Der Dubitativ existiert als Zeitform bereits im Türkischen, werde ich belehrt, um Berichte aus zweiter Hand wiederzugeben. Am Bosporus ist eben alles ungewiß, nur nicht der EU-Beitritt. Zuletzt noch drei nicht offensichtliche Volksweisheiten: Spare im Zorn, dann hast Du in der Not Studienjahre sind keine Lehrjahre und Kommt Krieg, kommt Rat Guten Abend 18.11.2005 Ich möchte es nicht mit Rußland vergleichen, aber es ist kalt in Berlin. Sogar der hartgesottene Radfahrer Ströbele schiebt sein Rad an mir vorbei in die geheizte S-Bahn. Er fährt nach Westen, ich nach Mitte. Dort gibt es eine Vernissage-Party kapitalismuskritischer Kapitalisten, nur einen Steinwurf von den Hackeschen Höfen entfernt. Und all meine Erwartungen werden erfüllt. An einer Wand hängen Bastelcollagen, die auch als Illustrationen in der Zeit verwendet werden können, Mischtechnik auf Wurstpappe zu je 50 Euro. Daneben sitzt eine Frau und liest ein Reclam-Heft, König Ubu. »Schoiße«, zitiere ich halblaut, sie schaut überrascht auf, genau! Ja, als Schauspielerin kommt sie praktisch nur auf Partys zum Einstudieren. Irgendwo hängen Sportmedaillen an der Wand, für Disziplinen wie »Schwester ärgern« oder »Herumjammern«, und gegenüber große Selbstportraits einer Frau im Spiderman-Kostüm. Ein belgischer DJ macht Musik. Zwei ältere Herren unterhalten sich, der eine mit Cowboyhut, der andere mit rosanen Haaren, beide bestimmt Dozenten an der UdK. Und der Rest des Publikums studiert höchstwahrscheinlich Kommunikationsdesign, findet Pippilotti Rist ganz toll - und wohnt in Mitte. Als ich die am extrovertiertesten gekleidete (und gleichzeitig attraktivste) Frau darauf anspreche, muß ich mich aber eines besseren belehren lassen: Sie kommt aus Friedrichshain. Ja, ich bin ein Mensch voller Vorurteile. 17.11.2005 Es begibt sich also, daß ich in Abständen von acht Tagen erst eine Karte aus dem Königreich Sikkim bekomme, dann eine aus Bhutan und heute eine aus Nepal, alle etwa zeitgleich abgeschickt. Der Himalaja ist eben eine beachtliche Hürde, selbst für die Post. Die letzte Karte hat darüber sogar ihre Farbe verloren, sie kommt wie ein freundlicher Gruß aus einer anderen Zeit, der sich lange in den Bergen verlaufen hat. 14.11.2005 Anruf aus der lächerlichsten Kantine der Welt. Ein Witz des Admins wird rapportiert, man könne mit 5 Fingern bis 31 zählen. Ja, binär, und, jetzt kommt es, seine Lieblingszahl sei 4. O glückliche Welt der Systemadministratoren! 13.11.2005 Schlingensief hat ja gerade in Namibia seine African Twin Towers gedreht, und ein Teammitglied zeigt nun in der Volksbühne ein 80minütiges Interview mit Super-8-Einlagen. Namibia-Heimkehrerin Christina und ich schauen uns den Kram an. Das Interview ist dann allerdings 5 Jahre alt und der Regisseur selbst leider nur per SMS anwesend. Im Monolog präsentiert sich der Mann vor allem als sympathischer Außenseiter und erzählt, wie nach seinem Kettensägenmassaker-Film zwei Staatsanwälte in einer Talkshow miteinander diskutierten, einer hatte den Film beschlagnahmt, der andere mitgespielt, was dem ersten erst in der Show klar wurde. »Da-das mit der Säge sind ja Sie!« - »Ja, sollten Sie auch mal machen«. Schlingensief sagt übrigens auffallend oft, daß er kein »Pendler oder Esoteriker« sei, betont irgendwie Bodenständigkeit und erzählt davon, einmal in einen Kreis abgehobener Nietzsche-Anhänger geraten zu sein, mit denen er nichts anfangen konnte. Dann zeigt man uns noch ein kurzes und ganz aktuelles Interview. Und da steht der Mann äußerlich unverändert in einem Slum und faselt wirr von »belichteten Schichten« seines Wanderkunstwerkes Animatograf, was vermutlich der Gerümpelhaufen im Bildhintergrund ist, und von Tibet und Urwald und vor allem von Richard Wagner. Mir fehlt bestimmt der Kontext, aber ich habe den Verdacht, daß Bayreuth prägt. Mich kriegen sie jedenfalls nicht so schnell als Intendanten. Danach gibt es noch einen cineastischen - na, Leckerbissen wäre das falsche Wort, Menu total, den man uns wärmstens anpreist: Auf der Berlinale '86 ausgepfiffen! Wenders ging nach 10 Minuten! Alfred Edel kotzt sich durch den ganzen Streifen! Helge Schneider: »Mein bester Film!«, Schlingensief: »Sein bester Film!« - aber wir haben bereits gegessen. 10.11.2005 Ich muß eine bestimmte Leseschwäche haben. Mein Blick streift das Plakat an der Straßenecke, ich lese den Schriftbalken »Profan bleibt profan«, stutze, bleibe stehen, und entziffere dann das Wort Popfan. Das passiert mir jetzt schon zum dritten Mal. 9.11.2005 Heute ist also mal wieder der deutsche Schicksalstag, mit Robert Blums Erschießung 1848, dem »Dolchstoß« 1918, Hitlers Putschversuch 1923, der »Kristallnacht« 1938, Georg Elslers mißglückten Attentat 1939 und dem Mauerfall 1989, ach, und die SS wird heute übrigens runde 80 Jahre alt. Ich schaue in die Medien und aus dem Fenster. Alles ruhig draußen. Dieses Jahr scheint eher fruchtlos zu sein. Ich stoße auf ein Statement von Andreas Gursky über seine Fotos: »Die Gefahr einer tautologischen Aussage wäre gegeben, wenn der Künstler das Bestehende bildhaft bestätigt, und eine Abstrahierung des Faktischen auf eine höhere Ebene nicht glücken würde. Wäre das fotografische Abbild nicht mehr als die Summe seiner einzelnen Teile, hätten wir es natürlich immer mit einem reproduktiven Abbild zu tun. Mir geht es bei meinen Bildern aber stets darum, daß ihr tatsächlicher Bedeutungszusammenhang unklar bleibt.« Ah ja. Aber wenn ich selbst z.B. mein jüngstes, von der japanischen Kritik als Weiterentwicklung seines Stils hoch gelobtes Bild teuer verkaufen könnte, dann würde ich natürlich exakt dasselbe sagen - und umgekehrt. 8.11.2005 Wir stehen bei Curry36, dem notorischen Eckpfeiler der kulinarischen Landschaft Kreuzbergs, und beobachten kauend die Abfertigung des zahlreichen Klientels, »Machenwa zweimal ohne und mit Körner, ja?«. Plötzlich zückt die unscheinbar in schwarz gekleidete Frau am Eingang einen zigarettenschachtelgroßen Rekorder, an den sie ein handtaschengroßes Mikrofon anstöpselt. Sie komme vom RBB, und warum wir ausgerechnet hier speisen würden. Martin und ich erklären uns spontan für medienscheu - man muß die Freunde beim Gault Millau nicht gerade heute provozieren, da die Grande Nation so viel eigene Sorgen hat. Aber Caschi steht Rede und Antwort: Man könne hier gut das kulturferne Flair genießen, nein, er kenne noch nicht so viele Currywurstläden, doch doch, er sei Berliner, aber: »Ich bin eher ein Dönerbudenmann«. Und nun ein Beitrag aus der Reihe Musik gegen Herbstdepressionen: Heutzutage, da Sir Simon und die Philharmoniker auf moderne Stücke setzten, »größtenteils wertlose Geräuschäußerungen« also, da werde es in Berlin immer schwieriger, den Abend niveauvoll zu verbringen. So tönt es aus Rintheim. »You could have it so much better with Franz Ferdinand«, tönt es dagegen aus Schottland. Wir verbringen den Abend also niveaulos auf einem Rockkonzert und ohne Rintheimer, dafür mit Caschis blonder, attraktiver und Stagediving-erprobter Superdoktorandin (»Für 10 Euro mache ich's« - also Stagediving). Man wäre nicht mehr so jung wie früher, sagt jemand neben mir. Das wollen wir doch mal sehen! Die Menge kocht, vier Jungs erscheinen, lassen ihren Bassisten deutsche Kommentare machen (à la »Auf Achse - Ein Lied von der Autobahn der einsamen Herzen«), spielen ihre beiden CDs runter, enden mit This Fire, verbeugen sich höflich und treten ab. Wir schwitzen uns dabei alle Textilprodukte durch, schaffen es mit Pogo bis vorn in die dritte Reihe, verlieren Knöpfe und einzelne Zehen, hüpfen mehr als bei den Beastie Boys, helfen all den Bühnentaucherinnen über uns und werden am Ende vom Schlagzeuger mit seinen Stöcken beworfen. Besser kann es bei den Stones früher auch nicht gewesen sein, meint Caschi sichtlich zufrieden. Ganz meiner Meinung. 7.11.2005 Auch furchtbare Tage können ihre gute Seiten haben. Und so stelle ich fest, daß mir ein schottisches Betäubungsmittel, gegen das ich zehn Jahre lang allergisch war, jetzt wieder ausgezeichnet schmeckt und nicht bloß okay ist. Ich starte mit 10- und komme bis zum 18jährigen, bevor wir hinreichend schmerzfrei zum Auftritt von »Bühnen-Furie Róisín Murphy« (so die Fachpresse) im Prenzlauer Berg müssen. Die Moloko-Sängerin hat vielfältige 20er-Jahre-Verkleidungen dabei und tanzt wild mit Smoking und Zylinder oder Kleid und Federkrone, reißt ihr eigentlich exzentrisches und ideenreiches Programm aber kurz und irgendwie sehr lustlos herunter, »Danke, very much«... 6.11.2005 Sie haben eine neue Nachricht, meldet das Postprogramm. Und heute würde ich wirklich sehr gern eine neue Nachricht haben. Doch als sie ankommt, ist es nur russischer Werbemüll. Viele Menschen in der Dritten Welt haben nicht mal russischen Werbemüll und wären dankbarer, das gebe ich gerne zu. Ich beschließe also, dankbarer zu werden, und beginne zwei Tage vor dem Konzert der-in-Sarajevo-erschossenen-österreichischen-Thronfolger, ihr neues Album doch gar nicht so schlecht zu finden. Und der Brief der Patentanwältin aus München, die etwas gegen meine Incal®-Markeneintragung hat, der ist doch auch recht freundlich geschrieben, und dieses süffisante »Ihrer Stellungnahme sehen wir mit Interesse entgegen« am Ende, das hat schon Stil. Vorhin wurde ich gefragt, ob ich mich »in einer Szene« bewege. Einer Szene? Aus Sicht der Szene gab es doch immer nur die Szene, und die haben wir natürlich verspottet. Heute fehlt sie uns, man ist froh, überhaupt noch etwas gefragt zu werden, und mit dem Spott müssen wir schon lange auf Volksparteien, Religionsstifter und immer häufiger auf uns selbst ausweichen. So kann das nicht weitergehen. Wer gründet mit mir den Club Candide für eine Bessere Welt? 5.11.2005 Am Potsdamer Platz kann man mutterseelenallein sein. Dazu muß man knapp fünf Meter vom Touristen-und-Klassenfahrtsteilnehmerstrom abzweigen und in den Tunnel der U-Bahn-Linie 3 klettern. Züge fahren hier erst in 50 bis 100 Jahren, wenn überhaupt, aber man denkt bei Berliner Bauprojekten ja gerne langfristig. In der Zwischenzeit steht der Tunnel unter Schwarzlicht, das seltsame Kreaturen anlockt. Ich entdecke eine wundersame Schaufensterpuppe, eine Wand voller Bauchnabel (Näbel? Nebel) und aus Preisschildern gepixelte Plakate. Dann sind da noch zwei oder drei junge und selbstverständlich schwarz gekleidete Künstler, aber ich bin nicht in Gesprächslaune und verlasse die Szene wieder. Nein, es gibt nur einen Ort, zu dem ich mich heute hingezogen fühle. Ich gehe in den Club der polnischen Versager. Ob ich eine Karte für das Stück hätte, fragt mich die Thekenfrau, hier, fünf Euro. Wie das Stück denn heißt, fragen die Leute hinter mir. Keine Ahnung, sagt die Kartenverkäuferin. Wenig später wird eine Glocke geklingelt, und wir können in die Hinterzimmerbühne eintreten. Schnell ist klar, daß es sich um finnisch-avantgardistisches Schaumstoffpuppentheater handelt. Und so erleben wir neben viel anderem den schwulen Werbefuzzi Angel und seinen Ex Doktor Spinne, eine mißglückte Neonazi-Mutprobe, Sodomie mit einem Trollkind, einen Slam-Poetry-Wettbewerb mit einem einzigen Teilnehmer, das Foto-Shooting für die Marke Stalker-Jeans, einen oder zwei Morde und zuletzt, wie sich der zukünftige Revolutionär von Helsinki auf einem Berg in Klischee Guevara umbenennt und dann an einer Überdosis Fliegenpilz krepiert. Nicht fehlen dürfen dazu einige Flaschen Wolfsschanze-Bräu (»so 'ne deutsche Marke«). Ja, da lacht der Finne! 30.10.2005 Vielleicht kann man auf 6 Quadratmetern einen Dokumentarfilm zum Thema Urbanität drehen. Die 6 Quadratmeter befinden sich in einem Wagen der U2. Vor mir sitzt ein etabliertes Paar (Ende 40, feiner Zwirn, Gesichtsöl, Philharmonie-Abo) und unterhält sich gedämpft, zur Linken folgen zwei stoische Mitte-Frauen im Partner-Look (weiße Sneaker, runder Pony bis zu den Augenbrauen, je eine rote Plastiktasche auf den Knien), daneben steht eine schöne Schauspielerin und erzählt ihrem Begleiter (groß, Koteletten, langer heller Fellmantel) strahlend von ihrer Generalprobe (sehr anstrengend!), während sie ihre braunen Haare zusammensteckt und wieder auseinanderpflückt. Den restlichen Raum nehmen ein unausgeschlafenes Party-Opfer vom Vortag und zwei italienische Filmemacher ein, die die Szene bereits mit wachen Blicken durch ihre kantigen Brillen mustern - und dabei immer wieder die Kamera des Hoffotografen bemerken, der sich gerade albernerweise überlegt, ob es ein Marine-Theater und darin Admiralproben gibt. Ein Mann mit schwarzem Cowboyhut, schwarzer Weste und schwarzem Schnurrbart schiebt sein Treckingrad hinein. Er sieht etwas heruntergekommen aus, hat dafür aber auf dem Gepäckträger ein altes Radio mit Kassettenteil, aus dem fröhliche Musik der 80er Jahre schallt. Eine Station später hält der Zug, wartet, und schließt gerade wieder piepend die Türen, als unser Mann bemerkt, daß er am Ziel ist, mit Rad und Musik durch den Gang wirbelt, auf die gerade geschlossene Tür trifft und im Schwung sein Radio zu Boden gehen läßt. »Nicht mal aussteigen lassen sie einen«, flucht er mit betrunkener Stimme, »diese Verbrecher! Gott sei Dank hab ich nicht bezahlt.« Wenig später sitzt man beim Frühstücksbuffett im Prenzlauer Berg und erlebt noch eine schöne Szene mit den Möllers: »Wir streiten uns in letzter Zeit häufiger« - »DU streitest Dich!«. 29.10.2005 Neulich im Weltverbesserungsclub »Ich möchte nicht direkt von einer Katastrophe sprechen. Außer Zweifel steht jedoch, daß man diese Präsentation gesehen haben muß: http://www.combots.com/index/Praesentation_HV.pdf« »Ich finde sie eigentlich nicht sonderlich bemerkenswert. Habe schon größeren Unsinn gesehen...« »Unsere alten Drehbücher waren doch aber niemals für die Öffentlichkeit gedacht!« Eher für selbige gedachte Beispiele fanden sich, wie erwartet, bei der Deutschen Bank und ganz überraschend in der evangelischen Kirche - ich predige es ja seit Jahren: Glauben muß sich wieder lohnen! 25.10.2005 Es gibt endlich ein Mittel gegen Dummheit! Natürlich nur hier auf incal - nach einer Idee aus Rintheim, und Dr. Möller von Schering steuerte freundlicherweise den Wirkstoff Paradoxyfloxazin bei (Ich habe für die zweite Version nun doch noch einen Bohlen gefunden). 24.10.2005 Eben erhalte ich aus Hannover einen Bildbeweis, der mich zu einer Gegendarstellung nötigt: Malins Eltern haben nicht versucht, ihren Lieblingsteddy namens Adolf heimlich verschwinden zu lassen. 14.10.2005 Nach vielen Monaten wieder ein Asia-Filmabend, erneut steht koreanisches Kino zur Auswahl: ein angeblich traditionell-krasser Rache-Streifen sowie eine Liebeskomödie, die auf Erlebnissen basiert, die jemand im Internet publizierte. Eine Webseiten-Verfilmung! Was kommt als nächstes? Außerdem sollen Koreanerinnen ja längst nicht mehr so schön aussehen wie noch vor 15 Jahren. Das Votum ist klar. Allerdings fehlt dann ein Audio-Kodex für den Rachefilm, so daß die Kömödie doch das Rennen macht. Yeopgi (engl. My sassy Girl), Raubkopie mit Untertiteln. Und was für ein Film. Am Ende kommt die Frage auf, wieviel von all dem wohl wirklich passiert ist, man ist skeptisch. Noch vor einem Jahr wäre ich es auch gewesen. 13.10.2005 Man feiert heute beim Online-Spiegel, hier zum Beispiel: »RYANAIR: Blinde Gäste wurden des Flugzeugs verwiesen«, es geht um sehbehinderte Menschen, oder hier, nacheinander »Tierschutz: Pamela läßt die Hüllen fallen« und »Fleischskandal in Bayern«, und immer so weiter. Ja, ich sollte nicht soviel Boulevardpresse lesen. 7.10.2005 Du bist Beethoven - mit ziemlicher Verspätung bemerke ich eine großangelegte Imagewerbung, offenbar ein Folgeprodukt der Einsteinjahr-Kampagne. Und es wäre nun leicht, die ganze Aktion zu verdammen und misanthropische Anmerkungen in die Welt zu setzen. Doch da gerade dies genauso zu den deutschen Talenten zählt, ist es vielleicht besser, die Kampagne einfach zu erweitern: Du bist Nietzsche! 5.10.2005 Der US-Bundesstaat Florida erlaubt seinen Bürgern den Gebrauch von Schußwaffen, sofern diese sich oder ihren Besitz bedroht fühlen - und einige Bürger fodern über dieses erweiterte Selbstverteidigungsrecht hinaus, den Besitz jeglicher Kriegswaffen (Maschinengewehre, Kampfjets) zu legalisieren. Und mal wieder wird hier nicht zu Ende gedacht: warum sollten sich nur Menschen gewaltsam verteidigen dürfen? Auch Unternehmen der freien Wirtschaft könnten mit Kriegsgerät einiges anfangen, man denke an die Abwehr feindlicher Übernahmeversuche, den Kampf gegen Produktpiraterie oder nicht zuletzt die Autragung von Freihandelskonflikten (Spannend: EADS contra Boeing). Vielleicht würden sogar neutrale UN-Marktbeobachter benötigt, und nichts wäre spannender als Wirtschaft. 4.10.2005 Ulrich Wickert bezeichnet den Nobelpreis als Wissenschafts-Oscar. Soviel zur Bedeutung der Forschung in unserer Gesellschaft. Zum Glück wird sie nicht nur im schwedischen Ausland höher geschätzt: Auf einem in Indien gekauften, dort als sehr gut geltenden Kugelschreiber finde ich folgende Gravur: »R&D in Germany«. Später melde ich mich bei GMX ab und bekomme unverlangt billige Boulevardberichte auf den Bildschirm. »Bernhard Bogner beging ...Breitod«, lese ich die Alliteration dann zu Ende. 3.10.2005 Mein Auskurierdienst macht Fehler: eine Bronchitis wird fälschlicherweise zur Lungenentzündung befördert, dabei hatte ich klar und deutlich die Gegenrichtung angegeben. Na, denen werde ich was husten. 1.9. - 28.9. 2005 Incal in Indien! Und wieder gibt es hier ein paar Postkarten für die werktätigen Massen. 14.8. 2005 »Chat hier jemand ein Schweizr Messr?« Die Runde am Nachbartisch schweigt betreten. Gibt es in der Schweiz denn überhaupt fremdlänsiches Schneidegerät? Während ich noch nach dummen Witzen suche, fischt die einzige Deutsche ein helvetisches Offiziersmesser aus der Tasche, und der Wein kann geöffnet werden. An unserem Tisch sackt unterdessen Christoph nach gerade mal 36 Stunden ohne Schlaf in sich zusammen. Anita, die Pariser Variante von Chrischtine Ditsch, versetzt ihm darauf mitleidslos batschbatschbatsch ein paar Ohrfeigen, er schlägt erschreckt die Augen auf, und sie trillert »Ju-hu!«. Wenig später erfahren wir von ihr, daß Stille Post in Frankreich téléphone arabe genannt wird. 13.8. 2005 Man kann gar nicht oft genug in der Schweiz sein. Und wenn andere auch Luzern oder sogar Zürich den Vorzug geben, so zieht es mich jedesmal wieder nach Lausanne, was nicht zuletzt am Genfer See liegt, diesmal vor allem aber an einer Hochzeit. Wir fahren mit einer alten Dampfeisenbahn zum Standesamt in die Berge und dann hoch auf eine Hütte, wo man unter anderem feinen Gruyère verzehren, dicke Zigarren rauchen und die Sterne anschauen kann. Wir beobachten die Szene zunächst skeptisch. Dann übernimmt allerdings unser Mann die Musikanlage, und wir stellen fest, inzwischen alt genug zu sein, um mit Anzug und Krawatte zu tanzen, ohne daß dies unangemessen wirkt. Und so bleiben wir bis morgens um vier. Hier das auf incal nicht fehlen dürfende Hochzeitsfoto. 7.8. 2005 Bei einem Katerfrühstück in Harvestehude entdecke ich das erste Gemälde, das ich mir auch selbst in die Wohnung hängen würde. Außerdem inhalieren wir für Luftballons bestimmtes Helium, und einer der großen Trauzeugen nutzt die Gelegenheit, um mit heller Stimme und unnachahmlicher Geste »Folgt mir!« zu rufen. 6.8. 2005 Auch im hanseatisch-liberalen Hochadel wird eine Ehe geschlossen, und wir kommen in den Genuß eines äußerst angenehmen Abends im Hamburger und Germania Ruderclub. Das Brautpaar ist zwischendurch zwar verschwunden, meistert dann aber bis weit in die Nacht hinein ein Programm, bei dem fast keiner der vielen Hochzeitsbräuche ausgelassen wird. Und man will mich auch um halb drei nachts nicht gehen lassen: Pfeiffersches Drüsenfieber, das sei keine Ausrede, damit habe sie selbst noch deutlich länger durchgehalten, meint die Schwester der Braut. Zuletzt werde ich Zeuge, wie eine hochbetagte Frau zu Sympathy for the devil tanzt. 11.7.2005 Auf großen Plakanten publiziert die Kampagne Einsteinjahr folgendes Zitat: »Was über meine Person publiziert wird, ist mir völlig gleichgültig«. Vielleicht arbeitet tatsächlich ein Scherzbold in der verantwortlichen Agentur, aber ich bin pessimistisch. 9.7.2005 So feierlich kann eine standesamtliche Hochzeit sein. Auf dem Wappen der Stadt Gardone schimmern gekreuzt die Gewehre der Beretta-Fabrik, der Bürgermeister persönlich ist Zeremonienmeister und trägt ein großes rotweißgrüßes Band über der Brust, und im Hintergrund stehen neben der übrigen Familie auch die vier zukünftigen Schwiegeronkel von Clause. Dies alles nur als Vorwand für die weitere Publikation eines Hochzeitsfotos. 8.7.2005 Die Frau aus Peru hat nichts anzuziehen. Wir unterstellen Absicht, denn sie ist mit einem großen Koffer und durchaus im Bewußtsein angereist, morgen eine Hochzeit zu besuchen. Aus dem Radio tönt auch noch permanent Werbung für den Schlußverkauf, Saldi, Saldi, Saldi! Wir geben endlich nach und fahren zum »Outlet-Center«, einer Art überdimensionalem Gewerbegebiet für Modeboutiquen. Und jedes einzelne Geschäft wird in Augenschein genommen. Ich überlege kurz, auch selbst die günstigen Outlet-Preise zu nutzen, und sehe mich nach einem etwas eleganteren Hemd um. Tatsächlich werde ich fündig, bin aber durchaus erstaunt, als ich bemerke, daß das Hemd zwar um 50% herabgesetzt ist, allerdings von 650 € auf nur noch 325 €. Gut, eigentlich habe ich bereits genug Hemden, und sechs Stunden Shopping können vom soziologischen Standpunkt ja auch anderweitig erfüllend sein. Die italienische Familie hat es unterdessen auch nicht leicht mit ihrem germanischen Bräutigam. Der eingefleischte Punk-DJ Klaus wird zum Friseur (»So, mein Junge, jetzt machen wir einen Menschen aus Dir - wenn auch nur für kurze Zeit«) und dann zum Familienschneider gebracht, der schon seit Menschengedenken für die Einkleidung zu festlichen Anlässen zuständig ist. Es kommt zum offenen Interessenskonflikt: Klaus weigert sich, Frack und Hemden mit überbordenden Rüschen und anderen Verzierungen zu tragen, wie es Schneider und Familie vorschwebt (»Es ist schließlich Deine Hochzeit«). Kurz vor der Eskalation entdeckt er aber einen einfachen schwarzen Leinenanzug, drückt diesen und seine Krawattenabstinenz durch, und alle gehen erschöpft nach Hause. Am nächsten Tag ist er samt italienischer Schwiegermama in spe wieder da, damit die Hosenbeine angepasst werden können. Er möge doch bitte die Schuhe auspacken, die er dazu tragen wolle. Klaus greift in den Rucksack und holt ein paar ernsthaft benutzter Sambas von Adidas raus. Die Gesichtszüge des Schneiders gefrieren, und die Mama fällt fast in Ohnmacht. Dann holt Klaus mit Genugtuung die richtigen Schuhe aus dem Rucksack. 7.7.2005 Wir erklimmen den Mailänder Dom und stellen einmal mehr fest, daß das Angebot an wirklich hervorragenden Krawatten in dieser Stadt größer ist als im Rest der bekannten Welt. Und auch sonst ist Mailand gar nicht so häßlich, wie immer behauptet wird. 6.7.2005 »Letzter Aufruf für die Passagiere Roth, Fischer und Wieczorek-Zeul« - alles, alles ist symbolisch im Berlin dieser Tage. Wir fliegen nach Mailand-Hahn, und das einzig unerfreuliche ist das stets gleiche halbdifferenzierte Mittelstands-Stammtischgeschwätz des Air Berlin-Chefs in seinem Bordmagazin, heute gegen die EU. Aber offenbar scheint ein Studium jedweder Art klassischen Unternehmertums abträglich zu sein. 26.6.2005 Wir sitzen im Straßencafé in Charlottenburg. Carsten erzählt touristisches. Da drüben, bei dem Italiener, da habe er neulich den Herrn Fischer gesehen. Und der Herr Sommer vom DGB würde dort seinen Wein kaufen, und so fort, man komme als Anwohner um eine Erkenntnis nicht umhin: »Hier ist das Weltzentrum der Toscana-Fraktion!« Plötzlich taucht hinter uns der Bundesaußenminister auf und setzt sich gegenüber ins Dollinger, quod erat demonstrandum. Carsten nimmt zufrieden einen großen Schluck Latte Macchiato. 25.6.2005 Ich wußte, daß man Kindern alles einreden kann, sogar Wunderkindern wie Malin. Malin hatte früher einen Teddy. Der Teddy war braun und schlicht und hatte über der Brust eine Deutschlandfahne aufgenäht. Der Teddy hieß Adolf. Alle liebten ihn. Irgendwann aber war der kleine Braune plötzlich tabu. Man ließ ihn verschwinden. Die Vergangenheit wurde systematisch totgeschwiegen. Es hatte nie einen Teddy gegeben. Scharfe Blicke durchbohrten Gäste, die Malin nach ihm fragen wollten. Aber all das ist lange her. Heute, in einer anderen Zeit, kann man sich dem Thema wieder behutsam nähern. Wir fragen also Malin in Abwesewnheit der Eltern nach dem Stofftier. »Er hieß Alfons«, flüstert sie mir ins Ohr. Wir lachen, Kindern kann man wirklich alles einreden. Da fragt sie mich, ob ich mich auch noch an ihr Krokodil erinnern kann. Ich nicke höflich. Welche Farbe es gehabt hätte. Grün? »Ich hatte gar kein Krokodil«, sagt sie da. Eins zu null, wie soll es bloß werden, wenn sie erwachsen ist? 24.6.2005 Ich warte am Ostbahnhof auf die Münchener. Der Zug hat 40 Minuten Verspätung wegen Personen im Gleis, die Bahn beschönigt es aber auf 30 Minuten und hofft, daß es keiner merkt. Das erinnert mich an die Demonstrationen der Achziger, wo es auch immer zwei Angaben zur Zahl der Teilnehmer gab. Die Münchener steigen dann übrigens nicht aus und fahren durch zum Bahnhof Zoo. Als ich hinterher will, hat die S-Bahn 20 Minuten Verspätung. Anderntags kann ich immerhin angeben. 40 Minuten, wegen Person im Gleis! Der Mann aus Rintheim überbietet mich: 80 Minuten wegen Großbrand! Und die Bahn hat es auf 70 Minuten heruntergelogen. Ich erwäge, ein Verspätungs-Quartettspiel herausbringen, mit Verspätung in Minuten, Verspätungsgrund (originell: »Fahrdrahtspannungsabfall«), teuerste Fahrkarte an Bord in Euro und durchschnittliche Reisegeschwindigkeit. Mein persönlicher Rekord liegt weiterhin auf der Strecke Hannover-Mannheim: 12 Stunden wegen umstürzender Bäume, Stich! 21.6.2005 Ich bin nicht Kuno! Vor einigen Tagen bekomme ich Post von Petra Nagel aus Menden im Sauerland. Sie hätte mir bereits geschrieben, das Spiel sei schon da, Asterix XXL, jedoch das falsche, sie brauche es für die Playstation 2. Ich bin überrascht. Als Empfänger steht »Kuno« vor meiner Mail-Adresse. Bevor ich das Mißverständnis aufklären kann, finde ich eine zweite Mail. Ob ich bitte auf ihre Briefe antworten könne! Ich schreibe also eine höfliche kleine Erwiderung. Aber sie hilft mir nicht, weitere Schreiben folgen, und der Tonfall wird schärfer. Heute werde ich von Petra Nagel informiert - ich, nicht mehr »Kuno« - daß das Spiel auf dem Rückweg sei und ich bitte das Geld auf folgendes Konto überweisen solle! Jetzt wird es langsam ernst, ich weiß, was passieren wird: Ich ignoriere den Schrieb. Ein weiterer folgt, und noch einer. Ich ignoriere alles. Dann finde ich einen Zustellzettel von DHL. Ein Paket mit einem Computerspiel sei ersatzweise im Geschäft unten rechts abgegeben worden, was die Geschäftsleute aber bestreiten. Weitere Bestellungen für »Asterix XXL« laufen bei mir ein. Ich entdecke Werbung für das Spiel auf meiner eigenen Webseite. Freunde gratulieren mir unaufgefordert zu meinem Durchbruch im Entertainment-Sektor. Und eines Morgens klopft es dann, und ein Mann tritt ein, den ich in dieser Wohnung noch niemals gesehen habe. »Wer sind Sie?« frage ich, und sitze halb aufrecht im Bett. Jemand mußte Bernhard L. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet. Ich antworte also lieber. »Gute Frau! Ich bin es nicht! Ich habe noch niemals für Geld ein Spiel verschickt! Ich habe noch nicht einmal Ihr Geld! Ich bin nur ein einfacher Mann, der sich zwar manchmal Spiele ausdenkt, aber sie nie, nie in die Post steckt! Ich gebe Ihnen mein persönliches Ehrenwort! Andernfalls will ich Meier heißen.« Vielleicht komme ich noch einmal davon. Christos teilt mir mit, daß in der Schweiz die virtuelle Viehzucht heutzutage nicht unpopulär sei, die aber leider immer noch viel Zeit koste. Die Folge sei, daß man im Urlaub nun Schweinesitter brauche. Sind wir so, wir Menschen? Kommen wir mit der Befreiung von einfacher, aber sinnstiftender Arbeit nicht klar? 20.6.2005 Kurz hinter Ingeln-Oesselse bemerke ich zum ersten Mal Heinrich und Irmgard. Die beiden sind nicht so groß und auch schon etwas älter, vor allem aber Windkraftanlagen. Für den Laien sehen die Mühlen alle gleich aus, aber bei den niedersächsischen Bauern hat jede ihren Namen. Und wenn ich Irmgard und Heinrich also da stehen und sehe, wie sie zusammen langsam ihre Flügel in der Sonne drehen, dann mache ich mir für einen Augenblick keine Sorgen mehr um die Zukunft. Wenige Stunden später bin ich wieder auf dem Boden der verdrehten Tatsachen: Münster trägt den Titel Lebenswerteste Stadt der Welt, und in Ludwigs(!)burg hält man Berlin für kulturlos. Der Berliner mag kulturlos sein, aber doch nicht Berlin! Karlsruhe (»Eine Stadt wie ein Stern«) immerhin sorgt für neue begriffliche Möglichkeiten - wie die Eigenzitattherapie, in der der Psychologe dem Patienten nur Sätze an den Kopf wirft, die von selbigem selbst stammen. Wir betreiben das zwar bereits seit Jahren, waren uns der möglichen therapeutischen Wirkung aber nie bewußt. 19.6.2005 Kaiserwetter in Niedersachsen. Moment mal! Überall lauert die Vergangenheit, auch Bombenwetter ist keine Alternative. Sagen wir demokratisch: Bundespräsidenten-, ja: Köhlerwetter. Ich fahre entsprechend nicht nach Locarno, sondern auf dem Rad durch die Feldmark, und mache unnötige Fotos von Hummeln, Getreide, Mohnblumen, noch mehr Mohn und Ameisen, die Mohnwirtschaft betreiben (nein, das ist keine Anspielung auf Bertelsmann). Eine kleine Pastorale. 18.6.2005 Im Hof. Es raschelt im Müllcontainer. Ich mache ihn vorsichtig auf und sehe zwischen nahrhaften Hausmüllbeuteln eine große graue Ratte, die mich fragend anschaut. Wer hat dich denn hier eingeworfen? Ich habe keine Zeit für Kleintiere und fahre zum Zoo. Neulich traf ich dabei auf einen sturzbetrunkenen Iren mit Gitarre, der äußerst glaubwürdig, na gut: singen konnte - »I've been a wild rover for many a year, and I spent all my money on whiskey and beer«. Und auf indische Kinder, die beim Erzählen immer die Augen weit aufrissen, um den Geschichten mehr Dramatik zu verleihen. Und einen obdachlosen Zeitungsverkäufer der motz, der auch American Express annehmen wollte. Heute ist unter der Erde alles ruhig. 15.6.2005 Am Morgen habe ich die erste Kolumne meines Lebens geschrieben, noch unter Pseudonym, aber immerhin. Und gerade rechtzeitig, denn am Abend treffe ich im Renaissance-Theater auf die anderen deutschsprachigen Kolumnisten, und kann ihnen kollegial-anerkennende Blicke zuwerfen. Die anderen - das ist vor allem Martenstein. Und, auch wenn er ebenfalls Texte von Martenstein vorliest: Harry Rowohlt. Rowohlt und ich sind auch die einzigen Jeansträger unter all den Ex-Kohl-Beratern, Ex-Fernsehmoderatoren und Ex-Nebenrollenschauspielerinnen. Und Rowohlt deklassiert mit seiner markanten, tiefen Stimme wie erwartet das Original, etwa hier: »Das Kind setzt sich in eine Ecke und baut aus Steinchen ein Ameisengefängnis. Ameisen, die sich nicht vorschriftsmäßig verhalten, werden mit Steinchen zerquetscht. Ameisen, die durch Befolgung der Vorschriften Langeweile hervorrufen, werden ebenfalls mit Steinchen zerquetscht. Das Kind hat keinen aufgeklärten Rechtsstaat im Geiste Voltaires errichtet, sondern ein faschistisches Terrorregime. Halt, was macht es jetzt? Oha, es holt sich Streichhölzer. Das Kind zündet ein Streichholz an. Es hält es an die Ameisen. Scheiterhaufen, Inquisition - das Kind durchlebt die katholische Phase.« Den Juretzki haben sie übrigens nicht eingeladen - vielleicht hatte er aber auch einfach keine Lust, ständig vom öligen Giovanni umschwirrt zu werden, Sie wissen schon, diesem Kerl von der Zeit. 12.6.2005 Ich mache Fotos von der vom Karneval der Kulturen bekannten Theatergruppe grotest-maru, die auf langen Stelzen durch die Menge läuft. Die Leute sind als Schiffsbesatzung verkleidet, und die Anführerin verschafft sich mit einer Trillerpfeife Platz, was die anwesenden Altrevoluzzer allerdings als autoritäre Anmaßung empfinden. »Schwuler Franzose!«, schallt es einem Matrosen mit roter Ledermütze entgegen - man kann ja aber auch nicht ahnen, daß sie Neuseeländerin ist. Und kurz vor Ende der Performance kommt Frau Kapitän immer näher an mich heran, bückt sich plötzlich herunter und gibt mir einen Kuß auf den Kopf. »Sie hat die Glatze geküßt«, ruft ein dicker Junge hinter mir be- und entgeistert zugleich, »sie hat die Glatze geküßt!«. Das Festival heißt übrigens hämisch Berlin lacht. »Entschuldigen Sie«, spricht mich ein aufmerksamer Herr kurz darauf am Herrmannplatz an. »Sie haben Konfetti im Haar«. »Ich weiß«, sage ich nur. 11.6.2005 »Hier um die Ecke, dann kommen wir schneller unter die Erde«. Ich meinte aber nur den Einstieg zur U-Bahn. Am Ostbahnhof gibt es neuerdings einen Automaten, der seine Benutzer fotografiert und die Bilder auf Postkarten ausdruckt. Wir haben noch etwas Zeit, vermummen uns also terroristisch und wählen das Motiv Reichstag. Und kaum hat das Gerät sein überteuertes Stück Pappe ausgeworfen, da steht auch schon sein Besitzer neben uns und fragt, ob es auch schön für uns war. Sein Fehler, denn sofort bemängele ich die im Vergleich zu japanischen Pendants rückständigen Spezialeffekte, frage kumpelhaft nach dem Geschäftsmodell und mache unnütze Verbesserungsvorschläge. Zu seinem Glück müssen wir dann doch schnell zum Zug. 9.6.2005 Die U7 hält. Die Tür geht auf, ein kräftigerer alter Mann tritt ein, sieht sich um und setzt sich auf die Bank gegenüber. Sein in alle Richtungen ausufernder Rauschebart ist fast schon weiß, der Blick sehr prägnant, und die Kleidung dunkel und altmodisch, wenn auch etwas fleckig. Er zückt ein dünnes Buch und studiert das ihn nicht bemerkende Neuköllner Proletariat. Ich habe das ganz komische Gefühl, einer Berühmtheit gegenüber zu sitzen - und, natürlich! Die Station hier heißt ja sogar so. Karl-Marx-Straße. 8.6.2005 Bericht aus Hamburg. Die Nachbarin wird abtransportiert, mit Blaulicht, und eine andere nutzt geistesgegenwärtig die Situation und erzählt aus dem Nähkästchen, wer schon alles im Hause gestorben sei - z.B. »die alte Frau Tomsen, also die Oma der jüngeren, hier auf dem Außenklo, schreiend!« - »Ach du Scheiße!« - Ja, und die beiden Frauen im Erdgeschoß, die im Bett geraucht hätten und dann verbrannt seien, aber nein, in der Wohnung darüber sei es gar nicht warm geworden. Und die Opferzahlen steigen weiter im Gespräch; unerbittlich ist der Schnitter in Barmbeck-Süd. Gut, daß Christiane umzieht. 7.6.2005 Das Interview ist fertig. Ich wurde nämlich zum ersten Mal im Leben interviewt - lange, nachdem ich die Hoffnung aufgegeben hatte, und das Ergebnis wird bezeichnenderweise auch noch in einem äußerst reichweitenschwachen Magazin veröffentlicht - aber dennoch, ein Interview. Und hier kann man es lesen. Natürlich hatte ich vor, das Gespräch aus nichtigem Anlass beleidigt abzubrechen, à la Brandauer ganz zu verweigern (»Wir können gern eine Tasse Tee auf dem Weihnachtsmarkt trinken«) oder zumindest einen mittleren Streit vom Zaun zu brechen. Nun also das - ein angepasstes, konventionelles Gespräch, in dem es um nichts als billige Paradoxien und die Vorspiegelung akademisch-kultureller Versnobtheit geht. Als rechter Christenmensch müßte ich rufen: Gott sei Dank! Gott sei Dank sind wir aber nicht religiös. 6.6.2005 Noch ein geerbtes Buch: Zur Ruhe kam der Baum des Menschen nie (Patrick White, die Bölls haben es übersetzt). In lakonischem Tonfall wird die einfache, recht ereignislos erscheinende Geschichte eines australischen Pioniers erzählt, und zuerst fürchte ich, sie würde einfach weiter dahinplätschern. Und weil sie aber genau das tut, gewinnt der Roman eine ungeheure Wucht, und seine 500 Seiten scheinen gering für all das Leben, die Einsamkeit, die Gemeinheit, die Liebe und den Tod darin. Sein Ende ist dann ein neuer Anfang. 5.6.2005 Das Frühstück ist »kriegsstark - ja, so sachten wir das früher«, kommentiert Pauls Großvater, mit Leib und Seele Veterinär, und erläutert seinen Verdacht der Möglichkeit einer Immunität gegen Zeckenbiß-Borreliose und die immense Personalbindung durch den Einsatz von Pferden im letzten Rußlandfeldzug. Dann kommen wir auf Digitaltechnik. Im Zeitschriftenhandel des Hauptbahnhofs zu Osnabrück entdecke ich später das hauptstädtische Veranstaltungsmagazin tip. Erst horrende Subventionen an Berlin zahlen und dann auch noch nachlesen, was man dort gerade alles verpasst, das ist doch Masochismus! Ich verstehe mein Land nicht mehr. 4.6.2005 Sabine und Paul heiraten. Passend auch zur Lage zwischen Münster und Osnabrück gibt es eine ökomenische Trauung, und als Hoffotograf habe ich die Ehre, dabei vorne und zuerst allein in der ersten Reihe im Seitenchor zu sitzen. Zur von der Familie an Orgel und Cello gespielten Musik ziehen Brautpaar und Klerus feierlich ein, und dann singt die Gesellschaft ein Lied, das ich zuerst im Winter bei einem sehr traurigen Anlass hörte - Geh aus mein Herz und suche Freud. Und ich verliere fast die Contenance. Das Lied selbst aber ist eine Freud' für jeden Psychologen. Später erleben wir viele weitere persönliche Momente, die Extravaganz britischer Hutmode, bemerkenswerte großmütterliche Dichtkunst, und nicht zuletzt die Gefahren eines DJs, der Wolfgang Petry im Sortiment führt. 25.5.2005 Ich bin zu einem Vorstellungsgespräch nach Karlsruhe eingeladen. Ich habe zuvor eine Art Assessment-Center durchlaufen und nun eine Hausaufgabe für das Gespräch bekommen. Ich lese mir weisungsgemäß einige dutzend Seiten Theorie an und mache mich an die Arbeit. Es entsteht ein Konzept, dann eine Präsentation dafür. Um vier Uhr morgens brenne ich sie auf CD, schlafe noch zwei Stunden, und mache mich dann auf den Weg. Um ein Uhr fünfundfünfzig nachmittags melde ich meine dehydrierte Anwesenheit bei der Firma, nennen wir sie S. Um ein Uhr sechsundfünfzig teilt man mir mit, daß der Termin am Vortag war. Um zwei werde ich dennoch empfangen, mache einen Kotau - und genieße all das, was man nach dieser verheißungsvollen Einleitung erwarten darf, sogar an das Unterlassen einer Getränkeofferte wird gedacht. Nach 60 Minuten Defensive werde ich zum Ausgang begleitet und laufe, der ich zuvor festhielt, niemanden im Unternehmen zu kennen, auf dem Flur der Uschi in die Arme. Ein kongruenter Auftritt. 22.5.2005 Wenn man im kalten Mai bei Abwesenheit von Sonne und Badegästen in die Ostsee rennt und einen ganzen Kilometer schwimmt, dann liegt das nicht daran, daß das in Sichtweite befindliche AKW Lubmin mit seinen acht stillgelegten Reaktorblöcken noch immer für angenehme Wassertemperaturen sorgt. Nein, es ist einfach Mut. 15.5.2005 Karneval der Kulturen. Paul und ich gehen auf Foto-Safari, schießen Schwäne, Frösche, Gottesanbeterinnen (mit Königin), Feuerspucker, schwarzweiße Stelzenläufer sowie die erwarteten Brasilianerinnen und freuen uns später, schönere Fotos gemacht zu haben als die Agenturfotografen. Dann kommt Christian Kollewe vorbei, der zum Turnfest in die Stadt gereist ist, und wir schauen uns den weiteren Umzug vom Fenster aus an. Es ist das genaue Gegenteil vom Kölner Karneval. Abends kommen die Brauers trotz des Trubels extra zu Besuch, um ihren Nachwuchs zu zeigen. Ich fühle mich sehr geehrt und staune noch lange danach über den Namen des Kindes: Leonard Ben Aurel Brauer. Damit kann er es einmal ganz weit bringen. 8.5.2005 Wieder gelandet. Ich frage am Flughafen Tegel den Fahrer, ob sein Bus zur U7 / Kaiserdamm fährt. »Über U7 Kaiserdamm«, verbessert er preußisch-streng. »Det is Berlin, sind wa wieder zu Hause«, kommentiert die Frau hinter mir. Am Jakob-Kaiser-Platz steige ich um in die U7. 21.4. - 8.5.2005 Wir machen eine Herrentour durch Hokkaido. Für alle, die keinen Wert auf altmodische postalische Grüße legen, hier ein paar virtuelle Postkarten. 11.4.2005 Mein Plastikkartenführerschein, den ich vor Beantragung eines internationalen Nichtplastikkartenführerscheins beantragen mußte, kann abgeholt werden. Ich eile also zum Amt und prüfe das gute Stück. Als Ausstellungsbehörde ist Berlin, Bundeshauptstadt eingetragen. Ich quittiere den Empfang und verlange nun die kosmopolitische Version, die von Hand ausgefüllt wird. Gleich auf der ersten Seite gefragt: Angaben zur Person des Führers. Na na na! Auch die Beamtin ist etwas unsicher. »Bei Wohnort schreibe ich aber nicht Bundeshauptstadt«, meint sie. Ich bin auch dagegen und schlage Reichshauptstadt vor. 2.4.2005 Die Sonne scheint durch weitgeöffnete Fenster in den umgekehrten Balkon hinein, auf nackte und bedeckte Haut, und unter meinem Blick zwischen bibeldünnen spiegelnden Buchseiten hindurch, die so von unten beleuchtet werden - was seltsam an die reflektierte Oberfläche rohen Glases oder den Boden eines Schwimmbeckens erinnert. Der Mann ohne Eigenschaften. Ich lese die letzte Etappe aus dem Nachlaßteil und vergesse dabei fast alles andere. 29.3.2005 Hinter mir im Zug fallen eine Mutter und ihre Tochter durch eine merkwürdige Mischung von Wortwechseln auf. »Mit der Braunschweiger Zeitung darf man sich ja nirgends blicken lassen«, beginnt die Mutter ernst - und dann kommt die attraktive Tochter mit ihrer weniger attraktiven Stimme auf Mörder zu sprechen, denen man ihr Wesen ja ansähe: sie hätten alle so einen verschlagenen Zug! Aber nein, die Mutter kann sich an diesen Fall neulich erinnern, diesen Milchbubi, der völlig harmlos ausgesehen habe - und so fort. Nachmittags Besuch im Technikmuseum, wo Kanonier Marc und ich der Matrosin Malin unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit ein paar Geheimnisse über unsere Piraten-Vergangenheit anvertrauen, bevor wir mit der Hexenschaukel fahren - die pädagogisch wichtige Luft- und Weltraumabteilung ist dummerweise noch nicht fertig. Zum Schluß entdecken wir noch etwas außerordentlich Antibritisches aus dem Jahre 1940. 28.3.2005 Wer austeilt, der muß auch einstecken können! Und so schaue ich die ersten 2500 Urlaubsbilder der Eltern aus Laos an. Außerdem wird neben dem sehr verspielten und kulinarisch hervorstechenden Familienosterwochenendprogramm noch eine neue Internetseite fertig. 22.3.2005 Ein fünfjähriger Verkehrsexperte erklimmt vor mir die Stufen zum Ausgang und gibt einsichtig zu, U-Bahnen seien nicht so schlecht, wie er zuerst gedacht hätte. Birgit erwähnt abends, daß es nach dem Stück am Sonntag ja noch ein von Voltaire inspiriertes Linsen-Essen mit Loriot in der französischen Botschaft gegeben habe, ob wir da etwa auch? - doch ich winke ab, wir hatten bereits vorher gespeist. Dann kommen Daniel und Schatzi, und wir haben darüberhinaus die Ehre, Daniels permanent gut gelaunte kleine Nichte kennenzulernen. 20.3.2005 Ein Tag mit der Ratte, der lange halten wird. Irgendwann sind wir im Botanischen Garten, wo zwar noch fast alles kahl ist, uns dafür aber die neugierigen Meisen auf die Finger fliegen und irgendjemand Weintrauben an kahle Äste gehängt hat. Wir ärgern Mimosen, kaufen getrocknete Kakaobohnenhülsen und sitzen in der Sonne. Abends dann in die beste aller möglichen Philharmonien, wo unser Freund Loriot es sich nicht nehmen läßt, seine Bearbeitung von Bernsteins Candide persönlich vorzutragen. Zu Beginn beschreibt er düster das Stück - »Dennoch trösten uns Voltaires ironische Zuversicht UND die Anwesenheit unseres sehr verehrten Herrn Bundespräsidenten!«, woraufhin wir zur Einsicht gelangen, zukünftig nach Möglichkeit Veranstaltungen zu meiden, die Herr Köhler besucht - er nimmt uns einfach die Aufmerksamkeit. Das Stück selbst kann nur als - und hier ist das Wort so angebracht wie selten - grandios bezeichnet werden. Sylvia Koke bezaubert als Cunigonde, Marjana Lipovsek gibt mit großer Geste und herrlichem polnischen Akzent die Alte Dame, und auch die übrigen schlagen sich wacker. Am Ende des ersten Aktes »haben Sie nun eine Pause, um Ihr ENTSETZEN hinunterzuspülen«. Wir trinken erstaunlich gute Himbeerbowle und freuen uns auf die Fortsetzung. Zurecht! 19.3.2005 Aufstehen ist morgens nicht leicht. Schnappe mir die Knipse und eile zur Zeremonie. Suche das Palais am Festungsgraben. Treffe dabei auf einen anderen Polterabendbesucher, der auch noch nicht wieder auf dem Dampfer ist, und auf den Trauzeugen. Mario, perfekt gekleidet mit silberner Krawatte und passendem Tuch in der Jackett-Tasche, hält schon sehr nervös Ausschau. Innen dann noch ein paar Vorbereitungen, und dann eine sehr würdige staatliche Hochzeit. Paar und Trauzeugen sitzen mit dem Rücken zu uns, aber vor einer Spiegelwand, und Gitta lacht in die wackelnde Kamera. Hinterher kommen Freundinnen und zwingen die beiden zum Tanz - sie spielen eine altertümliche »Für mich soll's rote Rosen regnen«-Aufnahme ab und werfen Rosenblüten und Glitter über die zwei. Es ist sehr sehr rührend. Am Ende bilden wir noch ein Rosenspalier vor der Tür und bewerfen die beiden mit Reis. 17.3.2005 Wir schauen uns im Kantkino die Tiefsetaucher an: Bill Murray als Cousteau-Kopie in verspäteter Midlife-Crisis. Der Film hat seine Schwächen - manche halten ihn für ein billig zusammengekleistertes Machwerk absehbarer Pointen, was zudem noch Längen hat und an entscheidenden Stellen gerade so eben abhebt, aber nie richtig fliegt. Caschi und ich finden ihn sehr gelungen. Murray spielt den ignoranten, aber sympathischen Cousteau, alle tragen rote Wollmützen, ein brasilianisches Crewmitglied singt ständig Bowie-Songs auf portugiesisch (besonders schön, als er Wache halten soll, dabei versonnen Space Oddity spielt und neben ihm die Piraten endlich ihre Bambusleiter anlegen), und dann ist da noch die wie immer wunderschöne Cate Blanchett als schwangere und von Murray als Kampflesbe diffamierte Reporterin. Vielleicht kaufe ich mir jetzt auch eine rote Mütze. 13.3.2005 »Die Stadt Düsseldorf, berühmt durch ihre Königsallee und den Westdeutschen Rundfunk, enthält 999 japanische Restaurants, diverse Kaufhäuser, drei Gehry-Bauten, eine Untergrundbahn, eine Kunsthalle, einen Aussichtsturm und eine längste Theke der Welt, wo das Bier sehr Alt ist.« Ich bin zu Besuch bei meinem Bruder und sehe mir alles an. Als wir den »Medienhafen« besichtigen, werden wir von Schneeregen überrascht und flüchten in eines der schicken leerstehenden Hochhäuser, wo einsam im vierten Stock die Filiale einer teureren Modemarke ihren Schlußverkauf macht und merkwürdige Aussichten bietet. Im Laden gibt es sogar eine Bar. 8.3.2005 Mein erstaunlicher bester Augenarzt von allen verblüfft mich mit jedem Besuch mehr. Wir sprechen sehr schnell und beginnen neben der beiläufigen Augen-Untersuchung mit unwahrscheinlichen Zufallsbegegnungen - wenn man etwa einen Schulkameraden nach zwanzig Jahren im Urlaub in Tokyo zufällig durch ein Fenster in der Küche eines Restaurants bei der Arbeit entdeckt - streifen die filmschaffende Tochter, unabhängig von moralischen Urteilen aus rein finanziellen Gründen betriebene Schönheits-Chirurgie, Kaufen-Beleihen-Kaufen-Beleihen-Immobiliengeschäftemacher vor und nach dem Fall Schneider, die einen ganz eigenen Typus von Jongleuren darstellen, dann noch ein Treffen mit dem ersten Testpiloten der Ju 52, der vor 12 Jahren offenbar noch lebte, dann noch den Kauf von Bratpfannen, einem Fachausdruck für gewisse Flugzeuge - und enden irgendwann bei der Frage, ob ich denn in Deutschland bleiben wolle. Ich dächte schon - und ja, er trotz allem ebenfalls. Fasziniert und unter ärgerlichen Blicken der ungeduldigen Insassen des überfüllten Wartezimmers verlasse ich den Ort. Wie macht der Mann das alles nebenbei? Er steht ja (meiner Erfahrung nach) auch noch mindestens 12 Stunden am Tag in der Praxis! Abends im Französischen Dom am Gendarmenmarkt. Hinter mir fragt ein Besucher seinen Gestgeber, ob mann denn dieses Kloster inzwischen wieder besichtigen könne? Nein, das hätte ja Friedrich der Große inzwischen abgerissen. Dann gibt es ein Gespräch zwischen Sloterdijk und Finkielkraut zum Thema Résister - aber ich bin selbstverständlich nur wegen der angekündigten musikalischen Untermalung durch Stefan Litwin hier. Allerdings muß man Sloterdijk doch zugestehen, daß er schöne Beschreibungen aus dem Hut zaubert: »das freche Licht der Subjektivität«, »Er ist ein kleiner ontologischer Appendix«, »Prometheus trägt im Gegensatz zu Herakles ja Züge eines Arbeitgebers«, »heute betreiben alle nur noch Theorie-Karaoke«, und so geht es in einem fort. Bemerkenswert ist allerdings sein Selbstverständnis als (platonischer) Akademiker: »Wir Akademiker haben der römischen Kirche 500 Jahre vorraus, das darf man nicht vergessen«. In der Tat! Finkielkraut, der mir vor allem meine mangelhaften Französischkenntnisse vor Ohren führt, spricht meist viel handfester, aber auch charmanter, und hat Kleinode wie das »posteuropäische Europa« auf Lager. Als einziger Vertreter eines Kulturmagazins erwarte ich dann gespannt die Widerstandsmusik von Litwin, der diese nicht als Untermalung, sondern als Kommentar zu verstehen gedenkt - und werde nicht enttäuscht. Der Mann macht aus einem Stück von Liszt das, was Liebeskind aus einem platonischen Körper machen würde - und bearbeitet den Flügel dabei sogar mit einem Hammer. Das kann sich natürlich kein Mensch anhören, aber eben darum ist es sehr gelungen. 7.3.2005 Zwei kleine Tiefschläge. Informierte Kreise deuten an, daß ein Pharmakonzern meine Arbeitskraft verschmähen wird, und aus Rintheim vernehme ich Schmähkritik an den untenstehenden Zeilen, die barresques Stuckwerk seien. Als rechter Verleger sollte ich zumindest die Rintheim-Kolumne sofort absetzen, wenn ich es schon bei Verhütungspillen nicht kann - aber dazu müßte man tatsächlich Verleger sein und seine Autoren am Ende auch noch ernst nehmen. 4.3.2005 »Außer Atem« gesehen, zuerst auf deutsch, bis mir Belmondo völlig unerträglich wurde. Kann der Kerl nicht einfach mal seinen Mund halten? Dann auf französisch, zugegebenermaßen mit Untertiteln, und - welch ein Unterschied... Auf dem Weg zum Videodrom läuft mir ein Bekannter über den Weg, der gerade seinen Volksempfänger (sic!) hat reparieren lassen. Persönlich würde ich eventuell einen Staatsempfänger bevorzugen, sicherlich ein großartiges, zugleich sehr subtiles und mit allen Wassern gewaschenes Gerät - doch Experten wie Mario würden darüber sicher höchstens diplomatisch lächeln. 3.3.2005 Ich versuche, mich einem großen nordostdeutschen Verhütungspillenhersteller erneut als brauchbarer Handlanger zu verkaufen - mit ungewissem Erfolg. Das Gespräch ist angenehm, aber recht kurz, was mir immerhin Zeit gibt, am Zoo die Ratte fast pünktlich abzuholen und mit ihr Whiskygläser austrinken und stehlen zu gehen, die unten im Boden so eine Gasglasblase aufweisen. 1.3.2005 Abends Konzert von Mars Volta in Huxleys neuer Welt. Der Laden liegt unbeschriftet in einer Heimwerkermarkt-Gewerbegebiet-Solarium-Freizeitcenter-Hölle an der Hasenheide; man betritt einen häßlichen Neubauflur, geht eine Gemeindezentrumstreppe aus den frühen Achzigern hinauf - und landet in einer großen altertümlichen und mit Stuck verzierten Halle, deren Längsseite aus einer sieben Meter hohen Rundbogenfenster-Front besteht. Ich frage mich, wie sie sich hier verstecken konnte. 27.2.2005 Besuch der Schwester (mit ihrer neuen Fliegenhaarspange) aus Hamburg, ein schönes Wochenende. Draußen Schneetreiben, dicke Flocken fallen langsam vorbei; dann lange Sonne. Wir schauen in die Stadt und spielen Lost Cities. Heute dasselbe, dazu erfinden wir den Parallog (man unterhält sich scheinbar normal, ohne bei seinem Gesprächspart aber im mindesten auf irgendeine Aussage des Partners einzugehen) - und machen noch ein paar experimentelle Fotos. Nachmittags plötzlich wieder Schneetreiben; der Schnee verdeckt ja immerhin gnädig den Dreck der Stadt, imitieren wir irgendeinen - ach, gibt es eigentlich schon das Grab des Unbekannten Misanthropen? Bei der thailändischen Suppe überraschen uns die Eltern am Mobiltelefon, sie sind gerade in Laos. Für uns, die wir nicht dem Jet-Set angehören, ist das etwas recht Merkwürdiges. Nein, nicht Laos. Doch, das natürlich auch. Dann zum Busbahnhof - und am Kaiserdamm kann man direkt nach Osten die Straße herunterschauen, wo die Abendsonne die ferne Siegessäule vor einem dunkelen, blauroten Himmel zum Leuchten bringt. Am Abend spielen in der Columbiahalle um die Ecke die Chemical Brothers. Mainstream, kommentierte Ingmar nachts zuvor, aber wir sind ja alle keine Musikredakteure mehr. Erstaunlich junges Publikum. Caschi und ich finden, daß die Brüder sich hinter ihren Pulten etwas autistisch verhalten, aber es macht viel Spaß, zur Musik zu tanzen, und ab und zu muß man der zierlichen polnischen Intellektuellen helfen, mit langem Arm ein Foto zu machen. 25.2.2005 Die Post hatte am Vortag zu ihrem Jubiläum Umsonst-Paketmarken verteilt, und ich beschloß in der Nacht, also ein Care-Paket zu versenden. Geschickt, geschickt, geschickt, stand auf einer Werbetafel über dem Schalter, und davor eine Schlange von Menschen mit spezialfrankierten Kartons unter den Armen. Die nette Blondine mit ihren zwei Kleinpaketen vor mir und ich sahen uns um - und dann verschmitzt an. Ein echter Belastungstest, kommentierte ich. Der Holländer hinter mir hatte auch mehrere Stücke, davon ein sehr großes, das auf dem Boden vor ihm stand. Was denn drin sei, fragte die Frau. Ein Mensch. Ich hoffe, er lebt nicht mehr? erkundigte sie sich. Nein, nein, keine Sorge. Hoffentlich haben Sie die Adresse deutlich geschrieben, merkte ich noch an. Man wünschte ja auch nicht, daß das Paket lange herumläge und unvorteilhaft zu riechen begänne. Nein, etwas Aufmerksamkeit beim Postversand von Menschen erschien den Anwesenden durchaus nicht unangebracht. 23.2.2005 Dinge, über die ich beiläufig reden und die ich ebenso beiläufig verachten kann: Der Management-Circle (»Bildung für die Besten«) veranstaltet die Fachtagung CallCenterWorld, auf der sich halbwichtige Schlipse u.a. über »Business Process Optimization« oder »Service Level Agreements« unterhalten. Eh bien. Zusammen mit einer attraktiven studentischen Hilfskraft (21) und mit Hilfe von Guerrilla-Marketing-Material versuchen wir, ein paar der Anwesenden zu Hildebrands willigen Helfern zu machen, was überwiegend nicht funktioniert. Dafür treffe ich auf meine Nachbarin Jenny aus dem Erdgeschoß, die Empfangsdame spielt - jaja, man ist ja kaum zu Hause und sieht sich praktisch nur noch auf Messen. 21.2.2005 Es ist etwas unvorhergesehenes passiert. Und das Daumendrücken hat sich gelohnt. Außerdem kann man nun erkennen, daß der Kerzendocht im orangenen Topf nicht zum Anzünden da ist, und die Valentins-Blumenzwiebel also überlebt hat und wächst und vielleicht sogar einmal blüht. 20.2.2005 Große Geburtstagsfeier in Hannover: Viola und Sonja werden 32, und mehr muß man eigentlich kaum sagen. Doro ist die Größte, Viola die Kleinste und Sonja die Schönste. Malin läßt sich herumtragen und küßt alle von oben auf den Kopf, Mike läuft mal wieder zu großer Form auf, Schatzi, der man ihren 8. Monat nun auch ansieht, unterhält sich intensiv mit allen jungen Müttern, Marc nennt mich Hoffotograf (den mir zuvor unbekannten Titel habe ich schon vor 10 Tagen von Tim bekommen), eine Wand wird mit Ramazotti dekoriert, und trotz der unüberschaubaren Musiksammlung finden wir noch etwas zum Tanzen. Nach einer Nacht auf dem unhöflicherweise beschlagnahmten Sofa spielen wir noch mit dem Wunderkind, und Viola schenkt mir die vorletzte Wedemark-WG-Tasse, was Herrn Möller wundern wird. Als ich die Wohnung verlasse, sitzt Malin verloren zwischen vier Zeitungslesern. 18.2.2005 Berlinale, Kurzfilmwettbewerb. Jam Session, den ich morgens um zwei in der Kurzfilmnacht schon schlafend gesehen habe, gewinnt einen halben silbernen Bären und meinen persönlichen Sympathiepreis - genaugenommen aber die Regisseurin Izabela Plucinska, die alle englischen Interviewfragen hartnäckig-schüchtern auf deutsch beantwortet und die vor dem Ausgang steht und mich anstrahlt, als ich herauskomme. Für den Knetgummi-Film hat sie zum Teil Elemente wie Rauchschwaden auf mehreren Glasplatten übereinander zu einem Gesamtbild angeordnet, und eine echte Jazz-Combo aus Warschau in Fimo eingefangen. In einer Szene quetscht sich ein Ehepaar aneinander vorbei durch eine Tür und muß sich hinterher das andersfarbige Partner-Fimo von den Kleidern putzen. Neun Monate Arbeit für coole zehn Minuten Film. Hut ab. 15.2.2005 Berlinale. In der Urania den Mitterrand-Film, dessen Charme in den Sprüchen des Präsidenten liegt. Als ich hinterher etwas esse, sitzt neben mir ein Wim-Wenders-Double, und man will auch nicht aufdringlich sein. Dann noch den neuen Samurai-Film von Yoji Yamada, und heim. Dort allerdings schlägt Martin zum IX. Asia-Filmabend auf, der einen weiteres Meisterwerk dabei hat: Sympathy for Mr. Vengeance. Hervorragend gefilmt, schöne Bilder, bemerkenswert brutal und insgesamt sehr verstörend. 12.2.2005 Eine schöne Geschichte von Hildebrand, der die Kinder eines Freundes zur Schule fahren soll. Der kleine, 7 Jahre alt, imitiert ganz selbstverständlich und täuschend echt die Stimme eines Navigationssystems. »Dem Straßenverlauf einhundert Meter folgen«, »In zwanzig Metern links abbiegen«, und so geht es in einem fort. Irgendwann reicht es Hildebrand, und er biegt rechts statt links ab. Doch die erwartete Irritation des Zweitklässlers bleibt aus: »Wenn möglich, bitte wenden«, tönt es souverän aus dem Fond. Im Briefkasten finde ich eine sehr liebenswerte, leicht giftige Postcard Orange, im Umschlag mit einer Blumenzwiebel, der allerdings die Post ihren tödlichen Stempel aufgedrückt hat. Ob ich sie rätten kann? 11.2.2005 Heute zum ersten Mal versehentlich »ick« statt »ich« getippt. Vielleicht muß man das einfach mal als Tatsache stehenlassen und respektieren. 9.2.2005 In der Philharmonie wird Beethoven gegeben, Klavierkonzerte 4 und 5, am Piano »der erstaunliche« Jewgenij Kissin, begleitet vom Gulbenkian-Orchester. Caschi und mir gefällt es durchgehend sehr. Und es ist jedesmal wieder schön, wenn am Ende einer Partie erst ein Moment der Stille herrscht, der dann von kollektivem lauten Räuspern und Husten des Publikums gebrochen wird. Am Ende großer Beifall und zwei Kabinettstückchen als Zugabe. Dann geht das Licht an, und wir verlassen unsere hohe Warte. Draußen, schon zwei Treppen weiter unten, hören wir Kissin eine dritte Zugabe geben, und stellen uns in einen verstopften Zugang zum Saal. Und alle Menschen um uns herum schauen glücklich und entrückt lauschend in Richtung der Musik. 7.2.2005 Reise auf eine Ostseeinsel. Keiner wird uns glauben, wie schön es da war. Du hast die Mütze vergessen, oh Michaelis. 5.2.2005 Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite seit Jahren die Junction Bar. Viel zu naheliegend, um abends hineinzugehen. Gestern haben wir es trotzdem mal gemacht und eine chilenische Band angeschaut (mit israelischem Trompeter, deutschem Saxophonisten und ukrainischem? Bassisten), und nach etwas Bier mußten wir einfach tanzen, fast bis zum Schluß das Konzerts. Dann irgendwelche Konservenmusik, und wir über die Straße und hoch ins Bett. Nun war das aber alles viel zu einfach, um bald wieder hinzugehen. 30.1.2005 Bio/chemiker-Klassentreffen in Hannover. Wir gehen zuerst tatsächlich in den Star Club am Steintor. Falsche Stadt, falsches Jahrzehnt! Und so sehen wir erstaunliche Menschen erstaunlich tanzen, und zwar zu einer Musik, die dem Film Müllers Büro alle Ehre gemacht hätte. Die Kellner ebenfalls filmreif, einer mit über den Anzug stehenden spitzen Hemdkragen und hinten langen dünnen Zottelhaaren. Dann in die Glocksee, und wieder zurück zum Steintor, zum Wucher-Dekicato und per Taxi heim. Da, da ist es, ruft Daniel, der Fahrer hält, und wir bewundern seinen geparkten neuen Audi A6, bevor wir den verdutzten Fahrer bitten, doch noch vier Häuser weiter zu fahren. Der Audi ist allerdings schwarz und nicht, wie ursprünglich bestellt, Dakar-beige, also goldmetallic lackiert. Wir sind enttäuscht, aber Sandra dürfte ein Stein vom Herzen gefallen sein. 26.1.2005 Kubrick-Ausstellung im Gropius-Bau. Viele schöne Kleinigkeiten zu sehen: das Miniaturheft »Holy Bible and Russian Phrases« aus Dr. Seltsam, ein begehbares Stück Innenleben und das Auge von HAL (ein 7,5mm Nikkor-Fischaugenobjektiv, f=5,6!), viele Requisiten aus Clockwork Orange - und ein Patronenkasten voller entwendbarer kleiner Peace-Sticker, die dem des Helden in Full Metal Jacket gleichen. Dabei fällt mir auf, daß Dr. Seltsam eine gewisse Ähnlichkeit mit Systemadministrator Briesenick hat. Seltsam. 25.1.2005 In der Nacht lese ich den 'Letzten Berliner' von Kaniuk, Salz in die deutsch-jüdische Wunde, und ich möchte den Interpretationen seiner Erlebnisse oft widersprechen. Er scheint mit der Moral häufig das Recht gepachtet (besser: geerbt?) zu haben, ist begreifbarerweise äußerst empfindlich, sieht dabei aber nicht immer die Anderen. Eine durch bloße Beschreibung anklagende israelische Perspektive, die die Größe Kaniuks Schmerzes deutlich macht. Vielleicht hat mich sein Tonfall auch gereizt, weil ich morgens vorher Borchert gelesen habe. 23.1.2005 Goldfrapp spielt him Hintergrund. Schöne Musik, es klingt gerad ein wenig nostalgisch-wehmütig nach Zirkus, und die Sonne bescheint mich dazu durchs Fenster. Auf einem Rechnungszettel vor mir ein skuriles Kunstwerk aus lauter schmalen, übereinandergeschichteten Bleistift-Mondsicheln, in der Nacht mit Hilfe einer Tasse beim Telefonieren gemalt, darauf eine verjährte Eintrittskarte: Friedrichstadtpalast, 25.6.1951, 19.00 Uhr - ein Lesezeichen aus dem kleinen alten Hesse-Buch, das ich morgens las. Daß ich las. 22.1.2005 Kater von der, ja tatsächlich: Weihnachtsfeier. Draußen ein schöner Tag; abends vor dem Brandenburger Tor von der untergehenden Sonne rot gemalte Wolkenflocken am klaren Himmel. Beinahe kitschig, wäre es nicht kalt. Kurzbesuch in der französischen Botschaft, leider ganz legal; ich mache ein Spiegelbild. Zwischendurch stoße ich noch auf ein Textfragment von Denys, daß seinen speziellen Charakter treffend wiedergibt: Gestern ist mir etwas Erstaunliches passiert. Gestern bin ich gestorben. »Was soll daran erstaunlich sein?«, werden Sie jetzt sicher einwenden. - so beginnt die Gebrauchsanleitung seines Spiels. Allerdings erinnert es auch ein wenig an unseren Max-Goldt-SMS-Literatur-Wettbewerbsbeitrag (»Gestern beschloß ich, mir zu geben, was ich verdiente: den Tod. Doch es gab keinen mehr. Statt dessen habe ich mich dann für eine Bratwurst entschieden«)... 18.1.2005 Es geht weiter. Mahnende Worte, ich möge an meine drei oder sechs Leser denken - aus Rintheim höre ich das, ausgerechnet! - bringen mich dazu, wieder Triviales zum besten zu geben. Andererseits ist ja auch viel Triviales vorhanden, und über Wichtiges kann man (hier?) nicht sprechen - also los. Aus Japan erfahre ich just, daß man Jetlag dort »Jisaboke« nennt, was Christoph ungefähr mit Zeitunterschieds-Senilität übersetzt. Mit etwas Glück bin ich zur goldenen Woche drüben und habe danach Gelegenheit, selbst zeitsenil zu werden. Mir passiert das immer nur nach Rü(y?)ckflügen. Ich erbte unter anderem ein Heftchen mit Worten des Vorsitzenden Heinrich, worin sich Lübke z.B. auch prophetisch über die deutsche Gartenteilung äußert: »Aber auf diese festliche Stunde fällt auch ein Schatten. Schmerzlich vermissen wir hier die Menschen aus dem anderen Teil Deutschlands. Wir sind gewiß, daß sie in großer Anzahl kämen, wenn sie nicht daran gehindert würden. Doch einmal wird der Tag kommen, an dem die Bundesgartenschau wieder eine Gesamtschau für alle deutschen Gartenliebhaber sein wird!« 16.1.2005, Nachtrag Wir verabschieden unsere biochemische Tante am Zug in Hannover, verspeisen daheim übriggebliebene Kekse, und schauen abends mit der ganzen Restfamilie in den Raschplatzkinos 2046 an, was allen gefällt. Der Film ist sentimental und bildgewaltig und fast nur aus Bildern von Menschen gemacht und beim ersten Anschauen nicht vollständig zu erfassen - und wird ja auch überall sehr gelobt. Team America, den ich neulich mit den Caschi und Daniel angesehen habe, spielt dagegen eine Liga tiefer, tritt aber immerhin in mancher Hinsicht die lustige Nachfolge von Starship Troopers an. Heute ein glücklicher Tag mit viel Sonne und Spaß nicht nur mit einer Teerose. Nachmittags zurück nach Berlin; abends Besuch von einer gestreßten Ratte. 15.12.2004 Incal, der sonst jeder Flause nachjagt - er macht Künstlerpause denn in seinem eignen Leben wird just das größte Stück gegeben was je war in seinem Hause Alle neugierigen Wesen ob aus Münster oder Sesen, Rintheim oder sogar Rethen werden hiermit denn gebeten später mal vorbeizulesen Nun leg ich den Schalter um und die Seit' wird schwarz und stumm. Irgendwann gibt's wieder Licht - oder zwei, man weiß es nicht Und damit endet die öffentliche Berlin-Episode in meinem Tagebuch. Ich bedanke mich für das unerwartet große Interesse - vielleicht gibt es demnächst ein neues öffentliches Kapitel zu lesen. In der Zwischenzeit wünsche ich allen eine schöne Weihnachtszeit. 8.12.2004 Ich werde von Forsa befragt und spiele mit. Als herauskommt, daß ich keinen Fernseher besitze, meint der Typ Hey, cool, ich auch nicht. Dann wird es locker, und nach seinen kommen meine Fragen. Bald sind wir bei Reisen, und er empfiehlt - nur für den Fall, daß Ihr wie Christina gerade in Namibia seid - dringend den Besuch des abgelegenen Dorfes Matema, im Südwest-Zipfel von Südwestafrika. 2.12.2004 Neukölln, in die U-Bahn. Ich lese Leviathan. Gneisenaustraße, sagt schon die Lautsprecherfrau. Stecke Hobbes zwischen Milch und Bananen in den Einkaufskarton auf den Knien. Schräg gegenüber schaut mich ein älterer, rundlich-kahl-professoraler Mann freudig an. Er kann es scheinbar gar nicht fassen. Nein, nicht die gesamte Jugend ist schlecht. 1.12.2004 Angesichts der vermuteten Hintergründe des Abrisses der Topographie-des-Terrors-Bauruine kommt mir der folgende Gedanke: Ich muß ein Brandenburger Tor fabrizieren, als größeres Kunstobjekt, in Beuys-Manier und hauptsächlich aus Filz. Die abstrakte Kupfer- (oder Fett-?) Quadriga wäre zugleich ein Selbstbedienungsfach mit Geldscheinen. 29.11.2004 Es gibt wieder ein deutsches Kino. Klar, man kann noch dran arbeiten, und in Kreuzberg an jeder Ecke Alt-Revoluzzer klagen hören, wie billig vieles daran sei - aber seht selbst: Die fetten Jahre sind vorbei! 28.11.2004 Wunderbare Lücken in den öffentlichen Notizen. Abends Theater, mit Caschi in der Volksbühne: Viel Lärm um Koks. Durch Drogen veränderte Persönlichkeiten schreien sich ausdauernd an, selbstgerecht, zynisch, überheblich und sehr verzweifelt. Jede/r ungeliebt. Eine trostlose Witwe mit ihrer Kiste 'Nazigold' und ähnliche Details. Selbstmordversuch mit dem Westafrika-Express, derselbst bestehend aus einer Karre mit geladener Riesenfigur, die einen beachtlichen, sich zum Kreuz teilenden Penis in die Waagerechte streckt. Und zwischendurch tatsächlich ein stiller Moment. Am Stadttheater Hildesheim wäre das Publikum arg verstört geflohen, aber hier ist man zufrieden. 13.11.2004 Arroganz aktuell. Im Weltverbesserungsclub unterhalten wir uns flüchtig über die Probleme der Massen-Freizeitlosigkeit, Militär-Adel (z.B. Heiner General von Geissler; alles wäre generalisierbar, selbst ein Generalkanzler ist vorstellbar) - und den prinzipiellen Funkverkehr am Flughafen Berlin-Hegel. Das Gespräch endet mit diesen Worten: »Es ist schön, daß wir jetzt, mit 30, schon soviel über unsere eigenen Werke sprechen können« »Ja. Man muß sich früh selbst zitieren« »Ich halte es für wichtig, mindestens ein Sechstel seiner Gespräche mit eigenen Zitaten zu bestreiten« »Ganz meiner Meinung!« 4.11.2004 Früher war unsere alte Wohnzimmerlampe einfach da. Dann wurde sie irgendwann, schleichend, immer häßlicher und landete schließlich, mit jäh geteiltem Plexiglas-Globus, in verlorenen Ecken unseres Dachbodens. Und nun ist sie ein gefragter Klassiker, für den sich die zukünftige Nr.2 der berliner Designhändler-Szene interessiert. Was haben wir eigentlich noch so auf dem Boden? 1.11.2004 In unserem Seminar. Der Referent trägt überzeugt und unstrukturiert Allgemeinplätze und Stammtisch-Ansichten vor. Neben mir sitzt Jörg von Ohlen und erduldet diese Situation ohne Hoffnung mit Würde. »Sie lächeln ja so«, wundert sich der Unternehmensberater. »Ich bin ein freundlicher Mensch«. 30.10.2004 Einkaufen mit den Bartholds. Bei Schmorl und von Seefeld gibt es eine Maskenbildnerin, die alle Kinder (und besonders Malin) in Halloween-taugliche Untote verwandelt. Ich begutachte inzwischen kritisch die vorhandenen Kinderbücher, finde aber kein passendes für mich, auch im zweiten Laden nicht. Malin bekommt noch einen pinken Puschelstift, der beim Schreiben rot leuchtet und eventuell auch ein Geschenk für Frau Oster ist. »Jetzt 'ne Bratcurry«, findet Viola, und wir sind handelseinig. Als sich später die noch immer geschminkte und dazu als Gespenst verkleidete Malin samt aggressivem Hasen in ihr weißes Ei setzt, bereue ich wirklich, die Kamera daheim gelassen zu haben. 29.10.2004 Ich rufe an und frage etwas unsicher nach... »Kokain?« schlägt die hilfsbereite Frau vor. Oh ja, gerne. »Moment.. okay. Wieviel wollen Sie denn?«. Erfreulich unkompliziert das ganze, selbst, wenn es nur um ein Stück von Frank Castorf geht. Abends erwartet uns Dr. Oster zu einer zünftigen Schießerei in der Südstadt von Hannover bzw. im neuen Aztechnology-Forschungszentrum im Hafen von New York. Martin »Captain Kong« Schnitter kommt extra aus Wien geflogen, und Sönke aus Manchester. Mal wieder ein rundum gelungener Abend! 28.10.2004 Einem angehenden Existenzgründer gelingt bei der Vorstellung seiner Kunden dieser schöne Versprecher: »In Berlin gibt es Kneipen jeglicher Likör!«. Um meinen prinzipiellen Anspruch auf den Posten von Sonneborn zu untermauern, fahre ich zur East Side Gallery, fotografiere einen Rest Mauer, entferne per PC Gerümpel und streiche den Beton neu, nur um der Titanic am Ende ein weiteres, sehr polarisierendes Titelbild schicken zu können. Empörend, polemisch und sachlich schlicht falsch, finde auch ich! Viel wichtiger ist aber die gestrige Gründung des 1. Preußischen Jazz-Batallions »Die langen Kerls« unter Leitung des Sonatenkönigs. Die Sol- äh, Musiker haben Gardemaß, tragen Uniform und bringen schnittige Interpretationen bekannter Jazz-Klassiker, absolut synchron. Und wenn es im Publikum rumort, ruft der Sonatenkönig energisch: »Ruhe ist erste Bürgerpflicht!« 26.10.2004 Aus Gründen, über die ich hier nicht sprechen und die man als Außenstehender nur kindisch nennen kann, besuche ich am späten Nachmittag das herbstliche Grab von E.T.A. Hoffmann, das sich auf dem Friedhof am Ende meiner kleinen Querstraße befindet. Auf dem Stein liegen ein paar Kastanien, und ein roter Ziegel kennzeichnet es als Ehrengrab der Stadt Berlin. Ich bin mir fast sicher, daß dies der Verwaltung einst nicht leicht gefallen ist. Wenn man, besonders in der Petersburger Eremitage, von Kunstposter-kaufenden Jugendlichen ob seiner Enthaltsamkeit zu hören bekommt, man habe es wohl nicht so mit Malerei, so empfiehlt sich als Antwort: »Ich hänge Originale auf«. Dies erfahre ich abends vom aktuellen Rußlandheimkehrer und Geburtstagskind Caschi. 24.10.2004 Wir schauen uns ein historisches VHS-Band mit einem Film namens »Müllers Büro« an - ein absurdes österreichisches Erotik-Krimi-Musical, unbedingt sehenswert! Damit hat zwar unser 3. Asia-Filmabend eine unerwartete Wendung genommen, aber mit mexikanischem Braten samt zugehöriger Schokoladensauce im Bauch sind keine vorhersagbaren Entscheidungen mehr zu fällen. 15.10.2004 Sic transit apotheca mundi. Ich verabschiede mich endgültig aus der Grünen Apotheke, bekomme einen grandiosen Fotoband (»Frohe Zukunft«, großformatige Bilder aus Bitterfeld & co) von Jost, und wir essen, es ist eine Überraschung, nein, nicht Currywurst, sondern im Mondhaus vor der Nase zubereiteten japanischen Fisch. Alligato gosaimaß! 11.10.2004 Joachim Fest erzählt in der Zeit von Johannes Gross: Einmal reichte er erine Spesenquittung über eine teure Flasche Jahrgangs-Champagner bei seinem Arbeitgeber Gruner+Jahr ein und gab als Anlass der Bewirtung an: »Selbstgespräch«. 10.10.2004 Auf der Rückfahrt. Die nette Schaffnerin drückt ein Auge zu und übersieht mein mit falschem Datum gebuchtes Ticket, setzt mich aber in ein anderes Abteil. Eine Station später steigt eine Frau zu, die nicht so genau weiß, wo sie eingestiegen ist - Frankfurt, war das schon? Ihr Beruf ist kompliziert zu beschreiben, doch, Kinderbuchautorin. Sie hat Sommersprossen, einen kleinen Oktopus auf ihrem Stirnchakra, Silber in der Nase, und draftet eine Geschichte in ihr Notebook. Sonne auf dem Gesicht in Gedanken, es spiegelt sich in der Scheibe. Dann steigt eine Mutter mit zwei Kindern ein, die Zielgruppe. La famille, versonnen vor grünen Hügellandschaften aus dem Fenster schauend - das Foto gelingt nicht. Aber dann packen sie Brezeln aus, und es wird sehr lustig. Die Kiddies spielen mit Brezeln und selbstgemachtem Edelsteinschmuck, der eine, Linus, kann Spanisch und steckt auf jedem Bild die Zunge raus, und kitzelig sind sie natürlich auch. Die Kinderbuchautorin mit der schönen Stimme lernt für ihr 2. Medizin-Staatsexamen in Greifswald, multiple choice, gibt dann aber auf (vorher resettet sie das Notebook mit ihrem Nasenschmuck). Zum Schluß bekomme ich eine Autogrammkarte mit Foto und Lebenslauf von ihr (»*1979, Freundlich-verrückte Eltern, Kiel, Augsburg, Schauspiellehrerin in Madras, viele Reisen, will mit Schreibmaschine und Stethoskop in warmes Land ohne Verkehrsschilder auswandern«). Wenn ihr mal ein Kinderbuch braucht, fragt nach Antonia Michaelis. 5.-9.10.2004 Ich mache ein paar Tage Urlaub in Karlsruhe. Das klingt ziemlich krank, ich weiß - aber es wird ein großer Spaß. Zuerst der Hitzeschock: in Kalle ist es glatte zehn Grad wärmer als in Berlin. Ich komme bei Maria unter, genauer gesagt bei ihrem nicht anwesenden Mitbewohner Frank, der wie Rutger Hauer aussieht (Blade Runner) und sehr in Ordnung ist. Abends bei Tim in Rintheim. Auf dem Flur entdecke ich eine Flasche liebevoll verpackter Badekugeln, deren Besitz Tim empört von sich weist. Gut, gut. Nach einem Gockelburg-Exkurs spielen wir also krasse Gesellschaftsspiele mit Hildebrand. Besuch bei der Web.de. Marion und Dani sitzen nett wie immer am Empfang. Die Redaktion: ebenfalls unverändert. Der Admin (unverändert, »Ach, hallo!«) zeigt mir die neuen Blades in den Serverräumen, nur eine halbe Höheneinheit pro PC. Aber es gibt doch ernsthafte Veränderungen. Olli leitet nicht mehr die IT, und in der Cafete hängen große Tafeln mit den Parolen der neuen Firmenphilosophie, die dem Raum eine merkwürdige Atmosphäre verleihen -
Am nächsten Morgen geht es mir trotz allem gut, und ich schaue mir eine Hannibal-Ausstellung im Schloß an. Die Karthager waren Phönizier (=Kanaaniten), monotheistisch, der dritte Punische Krieg war ein einziges Verbrechen, Cato hat niemals ceterum censeo gesagt und so weiter. Mit ergänztem Geschichtsbild, Hildebrand, Hansjörg und Maria geht es in die Gockelburg, wo wieder die Südafrikanerin kellnert - und hinterher trinkt Hildebrand doch tatsächlich noch einen kleinen Schluck Wein bei Maria. Tags drauf arrangiert er es geschickt, daß ich in einem Imbiß Mittagessen kaufen und es Beate vorbeibringen kann. Bernhard ist ausschließlich mit Kleinigkeiten zufriedenzustellen, hat Tim jüngst wiederholt. Später schaue ich mir die Colani-Ausstellung an, für die sich der Meister offenbar in Unkosten gestürzt hat. Er sitzt selbst neben der Kasse und begrüßt die spärlichen, aber sehr internationalen Besucher. Die Ausstellungsstücke sind teils spektakulär, Halle und Beschilderung dagegen unangemessen. Abends sind wir bei Peter (Bruder) und Uschi eingeladen, die nun eine elegant ausgebaute Dachbodenwohnung besitzen, samt aufsehenerregendem und mit Silberscheiben gefülltem Metallregal und einer Hollywood-Schaukel - die ich verschweigen müßte, da sich auf ihr stundenlang praktisch nichts abgespielt hat. Wein, Pizza, Musik, ein unerhörtes Weingummi-Theater für Erwachsene von Frank und andere Zutaten halten uns aber fest bis morgens um halb sechs. Peter gibt mir noch eine gute CD mit, als bewußte Dauerleihgabe. Alle Menschen werden Bruder, ich bin gerührt und laufe, von Beate an der Fußgängerzone ausgesetzt, zu meinem Unterschlupf zurück. Eine Mütze Schlaf, dann ins ZKM. Im Café treffe ich auf Gökan, der hier nur als Zitat seiner selbst sein kann. Hildebrand ist im Fitness-Studio, »Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper«, doziert er - er sollte lieber in eine Bibliothek gehen! :) Dann ein Spieleabend bei Maria (die Spiele heißen Intrige und Kuhhandel), die uns alle mit Sprüchen wie »Schönheit verpflichtet!« verblüfft, dabei aber hinterhältigst abzockt. Fürchte die Danaer, selbst wenn sie mit Geschenken kommen! 29.9.2004 Just werde ich durch schrilles Klingels bei der Musik-Synchronisation französischer Experimentalfilme aufgeschreckt. GEZ?! Nein, ein entrüsteter alter Herr, der offensichtlich unter mir wohnt, macht mich darauf aufmerksam, daß es bei ihm im Bad regnet. Ich verstehe nicht ganz - aber als ich mein Bad öffne, kommt mir etwas Seifenlauge entgegen. Oh Gott, die Waschmaschine. Meine Sperrholztür hält dicht, die Fliesen dagegen sind permeabel - deutsches Handwerk. Wie ich heiße und ob ich versichert sei. Ich sehe Louis-XV-Möbel, gefüllt mit wertvollen Stichen, in trüber Laugenflut versinken. Hochwasserkatastrophe. Der Mehr Wasser-Knopf der Maschine ist noch immer gedrückt. Unten dann eine Wohnung mit abgenutztem PVC-Belag, im Bad tausende alter Waschmittelpackungen, leere Dosen, Tüten, Tand, ein Aschenbecher. Es dröppelt noch immer, vielleicht 10 Liter sind runtergekommen, fast alles auf den PVC oder in den Hausflur. Für das alte Paar das heftigste Erlebnis seit Menschengedenken, ich werde als Täter recht unwirsch behandelt, wische, entschuldige mich vielfach, sichere nach Möglichkeit die Begleichung aller Schäden zu und so fort, bis mir am Ende noch der von der Flut völlig aufgeschreckte Nymphensittich nebenan gezeigt wird. Oh Mann. 26.9.2004 Heute morgen höre ich klatschende Menschen auf der Straße, schau an, vor meiner Haustür läuft die Marathonstrecke lang, die Kenianer kommen grad vorbei. Ich mache ein paar Bilder von den Verfolgern, dann treffen wir uns, um die Holländer abzupassen, die auch mitlaufen. Daniel ruft den tausenden Läufern »Könnt aufhören, die ersten sind schon im Ziel«, »Ihr seid doch alle gedopt!« oder »Lauf, Stefan, Du schaffst es« zu... und Maarten schafft irgendwas um 4:20. Dann noch in ein Cafe, dann zum Auto, Sonja dreht sich um und sagt, jetzt müsse sie wohl allen einen Kuß geben, genau zum einzigen Fremden, der zufällig hinter uns hergelaufen ist, oh!, und zuletzt Frankfurter Sonntagszeitung bei Caschi lesen, sehr entspannt. Eine Pause zu Hause, und vor dem Abend mit den ausgelaugten Holländern noch, wie man aus Kyoto kommentiert, Flüchtigkeitsromantik - Eine kleine Geschichte des Scheiterns Ich stehe auf dem Bahnsteig und warte. Sie kommt. Ich schaue sie an, sie schaut mich an. Ich gehe um eine Säule und stelle mich neben die Bank auf der anderen Seite. Eine Theatertruppe unterhält sich. Zwei junge Franzosen und eine alte Diva mit kurzen, rot-orange-gefärbten Haaren. Deutsch, italienisch, englisch und französisch, wahllos, banal und amüsant. Nein, Zungen-Piercings sind nichts für die Diva, nichts, was schmerzhaft ist. Die U-Bahn kommt, wir steigen in den selben Wagen. Ich setze mich nicht auf den Platz neben sie, das macht die Theatertruppe dann. Die Diva mit dem angetackerten roten Zopf unterhält sich weiter, Then I was in Madrid with a friend, he was terribly rich. Ich freue mich über die Szene. In der Stadtmitte steigt die Gruppe aus, ich setze mich auf den freien Platz gegenüber. Sie strickt einen weinroten Schaal. Blicke sie an, sie schaut zurück. Ein Kind mit Lockenkopf schnappt sich den Fensterplatz, will dann aber wieder raus. Na Du, schon wieder weg? frage ich. Sie schaut und lächelt. Mein Kopf ist voll und leer. Ich stehe früh auf, zur anderen Tür, sie steht dann auch auf, ich bin nicht schneller im Gewühl, und wir verlassen den Bahnhof zusammen. Ich dann vor, hinten die Treppen hoch zur S-Bahn. Wenn sie auch hier hochkommt, spreche ich sie an. Drehe mich um, sie hinter mir, schaut mich an, ich schaue verlegen weg. Die S-Bahn kommt, wir steigen zusammen ein. Sie setzt sich, ich stehe, schaue sie an und wieder weg, als sie zurückschaut. Stelle mich an die Tür und sehe sie im Spiegelbild. Da kreuzen sich die Blicke im Spiegel. Ich schaue weg, Zug hält, ich raus, sie auch. Gehe langsamer, noch immer keine Idee, sie vor mir die Treppe runter, Tunnel rechts, ich links. Warte. Dreht sie sich um? Nein, sie biegt ab. Was bin ich für ein Idiot. Gehe hinterher. Sie ist weg. 25.9.2004 Der Berlin-Marathon steht vor der Tür, zuerst aber die erweiterte Studienfamilie Cafe Burger ist voll und die Musik großartig. Es gibt die Schmidts und ein großartiges Lust for life-Sabotage Mix-Stück und Muse, um halb sechs noch Where is my mind von den Pixies und eine unbekannte Heroes-Helden-Version von Bowie. Zuerst tanze ich alleine um die schöne kleine Winona Ryder und ihre Freundin herum, später umringen wir die beiden mit Caschi, Daniel und den Holländern fast. Zuviel Bier, natürlich. Sie heißt Isabelle und kommt aber nochmal wieder, verrät sie im Hinausgehen, was bezweifelt werden darf. Um 6 Uhr morgens lasse ich die beiden werdenden Väter auf der Tanzfläche zurück und schlafe bis zum Abend. 22.9.2004 Ich bekomme spontanen Besuch von Hildebrand und mein rotes Flight Club-Hemd! Juhu. 19.9.2004 Christina verschwindet nach Deutsch-Südwest und macht eine Abschiedsabend im Prenzelberg. Sandra und Daniel nutzen die Gesellschaft und lassen eine Bombe platzen - das Kind ist unterwegs. Der Abend wird lang; am Ende sagt eine Freundin von Christina, sie sei 40. Ich reagiere offenbar mehr erschreckt als verblüfft, worauf sie meint, man habe schon noch normalen Sex. Autsch, so war das doch nicht- 18.9.2004 Nachts um drei fahre ich mit Thermoskanne, Kamera und Stativ zur Nationalgalerie, um mir die Installation anzusehen. Menschen haben sich zu einer Schlange aufgestellt, die sie in sechseinhalb Stunden durchlaufen. Immer neue Statisten stellen sich an. Das Werk nennt sich »MoMA in Berlin« und zeigt das menschliche Leben in allen Facetten. Konsequenterweise müßten in der Nationalgalerie lauter Flachbildschirme mit Live-Kamerabildern der Menschen draußen in der Schlange ausgestellt sein, aber so weit haben die Veranstalter natürlich nicht gedacht. Ich mache ein paar Bilder und verschwinde wieder nach Kreuzberg. Curry36 hat zum Glück noch auf. 17.9.2004 Wenn ich morgens etwas zu spät zur Arbeit fahre, sehe ich im ersten Wagen der U6 die unglückliche Chinesin. Sie ist sehr schön und hat diese natürliche Feinheit an sich - wie ihre schlicht mit einer Klammer hochgesteckten Haare wirken und fallen, wie ihre unauffällige Büro-Kleidung zusammengestellt ist: hier in der U6 stammt sie von einem anderen Stern. Aber sie schaut zu Boden, an die Wand oder in ihr Spiegelbild im dunklen Fenster, stets mit derselben fast indifferenten Fassade. In der roten Station der Mitte steigt sie aus. »Sicherheitsrichtlinie wird übernommen«, vermeldet Windows. Das Programm als Staat... das »Schweinesystem«! Der Zentrale Vertrieb startet das Projekt ASPIRE - was tatsächlich für »ASsignment of CorPorate MarketIng Functions REalignment« steht. Unsere elegante Kurzform für »Schering Applicaton for Drug Data Administration and Maintenance« dagegen wurde abgelehnt. 16.9.2004 Endlich! Die Welt atmet erleichtert auf. Es gibt einen neuen Incal. 14.9.2004 Vielleicht haben sie ja einen Muttersprachler. Die Deutsche Welle eröffnet ein Internet-Angebot auf klingonisch: »Der Dialog der Kulturen endet nicht am Rand dieses Sonnensystems«, meint Intendant Erik Bettermann. Klingonisch, aber kein Altgriechisch. Abendland, quo vadis. 5.-6.9.2004 In einem Spezialgeschäft der Freien und Hansestadt. Sehr gut, leicht zitroniger Abgang, möchten Sie probieren. Natürlich, keine Katze im Sack - aber ja, es conveniert, bitte einpacken, drei hiervon und drei davon. Die andere Espresso-Verkäuferin schaut mit verschänkten Armen durch ihr Schaufenster. Draußen japsen Triathleten vorbei, kommen ganz unterschiedliche, Dicke, Dünne, Schnelle auch. Wieder hinaus. Alles ist voll, die Sonne sticht, ein Radiomensch moderiert flugzeugturbinenlaut, und den Himmel zerschnarren drei Helikopter. Wir selbst ebenfalls Extremsportler, Einkaufstriathlon, 240 Minuten lang. Ich probier nur eben noch. Frauen. Hart bei den Wettkampfbedingungen heute, aber es hat ja auch sein Gutes. Erschöpft zum Auto, zum Glück ist Christiane Ein- und Ausparkmeisterin, und flugs nach Haus. Später auf die Schanze gefahren. Ihr habt einen Parkplatz? In Hamburg?! Ingmar ist umgebungstypisch gekleidet und nicht soforz zu entdecken. Hin zu einer Schankwirtschaft mit Aussicht und Bier. Badisches Tannenzäpfle, inzwischen kennt es jeder. Und wieder so eine Art Namedropping-Spiel, ich fange an, gar nicht absichtlich. Die ängstliche Gräfin, Doldinger und der Unternehmensberger, herrlicher Konter. Und unseren Hochzeitsphobiker zur Trauzeugenschaft überredet, beim Zeus! Später runter ins Click, wenn es denn endlich aufmacht. Leidenschaftslos tanzbare Musik darinnen. Dann: zwei Stunden Heimweg, die üblichen Murphyesken. Eine halbe Mütze Schlaf. Und auf, den schönen Sonntag genießen. An den Kanal gefahren und ein Boot gemietet. Drei Kapitäne, jeder ein Paddel und ein Ziel. Auf Triemen gab es keine Demokratie. Wir fahren schief! Ja! Nein! Bananenkurs. Und doch Sonne, Wasser und Ruhe. Gradere Bananen jetzt, wir kommen auf die Außenalster. Weite, Dahingleiten. Später durch Seitenkanäle zurück, bis wir nicht mehr können, und daheim ausruhen. Langsam wieder an den See, Schöne Aussicht heißt die Straße, die Wiesen leuchten, und das Wasser ist wie hingemalt. Alsterwasser. Ein Zweijähriger füttert alle Seevögel der Stadt gleichzeitig. Tieffliegende Möven kämpfen um die besten Brocken. Ein giftschlangiger Schwan zischt mich an. Unangenehmer Zeitgenosse, man sollte ihm. Liegen im strahlenden Grün. Schwarze Hose, schwarzes Hemd. Das Buch hat gar keinen Aufdruck. Ein Weißbuch. Und der Kleine da, läuft immer hin und her, glucksend, hat es grad gelernt und spielt mit seiner neuen Macht. Sein Vater: der junge Klaus Bednarz, mit schieflichem Lächeln. Die öffentliche Freude vor fünf Zuschauern ist ihm fast unangenehm, er macht einen entschuldigenden Kommentar. Lieber auf die Schaukel da hinten, was, und ein Foto gemacht fürs Album später. Ja, später, das wird noch lustig für den Kleinen. Weiterlesen, welche Seite war ich. Lesend versinkt die Sonne hinter einem kleinen Netz mit Spinne am Ufer, und es wird kühler. 1.9.2004 Die Rekordbesucherin Als wir neulich bei einem Betriebsausflug, mitten in der Mond-ähnlichen Braunkohlewüstenei der Lausitz, eine Art bundesfinanziertes Heimatmuseum besichtigten, wurden wir von der Museumsleitung, Pressefotografen und einem Drehteam des ORB empfangen, erhielten vor laufender Kamera unsere Eintrittskarten ausgeteilt, und unsere bajuvarische Praktikantin wurde zur 10.000. Besucherin auserkoren, interviewt und mit Gaben überhäuft. Die Szenerie ist absurd, aber rührend. Und ausbaufähig. Dieser Tage wird der einmillionste Gast im berliner MoMA erwartet. Die Idee ist naheliegend: unsere Vroni wird nebenberuflich Rekordbesucherin. Nach ein paar derartigen Auftritten ist sie hinreichend prominent, um zu allen wichtigen Ausstellungen eingeladen zu werden. Der Rekord bekommt ein Gesicht. Menschen fragen sie im Zug, wohin sie denn unterwegs sei, um sich aus erster Hand über sich anbahnende Ereignisse zu informieren. Bald wird sie auch im Ausland gesehen, taucht dann und wann in den Klatschspalten auf, und der Spiegel bringt einen zweiseitigen Hintergrundartikel. Die Medien freuen sich, das Land hat einen neuen internationalen Sympathieträger, und München macht wieder Boden gegenüber Berlin gut. 26.8.2004 Durch einen Fehler im Räderwerk von Schering wird mir ein Großplaner zur Verfügung gestellt. Das ist nur ein Kalender im A1-Format, man könnte sich allerdings auch einen durchaus ansprechenden Beruf darunter vorstellen. Natürlich wäre es dann notwendig, Herr mehrerer Großplaner sein, allein schon, um nicht selbst die Detailplaner beschwichtigen zu müssen, welche sich zwangsläufig über all die Spezialwünsche von Ganz Oben aufregen würden. 25.8.2004 Die Haifischbar ist leer - vielleicht ist sie zu cool, oder es ist einfach noch zu früh. Wir gehen zur Bergmannstraße zurück und vernehmen dort die schlechten Neuigkeiten. Über Daniel und Schatzi hängt ein Damoklesschwert: Man plant, die beiden nach Halle zu versetzen. Halle! Wir unterhalten uns über die Konsequenzen und Ostdeutschland allgemein, werden aber ständig von fliegenden Händlern unterbrochen, die uns den Straßenfeger, die Berliner Zeitung, die Titanic (ausgerechnet!) oder sogar selbstgeschriebene »Ökologische Märchen für Erwachachsene« aufschwatzen wollen. Wir machen eine kurze Leseprobe und sind schon vom ersten Satz nicht so ganz begeistert, außerdem schreibt der Mann Pinocchio falsch. Der Autor nimmt die Absage gefaßt, aber traurig auf, es ist nicht seine erste. Ja, die Zeiten werden härter. 23.8.2004 Kann man denn nicht endlich einen Schlußstrich ziehen? In der U-Bahn sehe ich neulich Touristen mit einem Lonely-Planet-Reiseführer »Germania«. Es dauert einen Moment, bis ich auf die Idee komme, es könne den Führer(!) ja auch auf italienisch geben (natürlich! ein Duce, sozusagen), und einen weiteren bis zur Fertigstellung der zuerst assoziierten englischen Ausgabe. Beim Thema Germania kommen wir wieder auf die alte Augstein-These, nach der der ganze Nazi-Wahn niemals ernst gemeint gewesen sein könne, ein wagnerianischer Scherz. »In England hätten sie den obersten Nazi-Schergen schon 1931 die Leitung eines angesehenen Theaters angetragen, und wir alle hätten uns so manchen Ärger sparen können« »Hitlers Hamlet wäre gewiß heftig umstritten gewesen!« »Ja, besonders wenn die Besucher am Eingang ihre gesamten Habseligkeiten und auch ihre Kleidung abgeben müssen hätten und kurz hinterm Eingang in zwei Gruppen eingeteilt worden wären.« »Natürlich, die 'Besucherfrage'. Die Theathergemeinschaft muß 'erwachen', aus der Versklavung des 'Internationalen Finanzkritikertums' ausbrechen, seinen 'Spielraum' zurückgewinnen. Die Bretter, die die WELT bedeuten.« »Und am Ende will das Stück dann keiner gesehen haben, alle schieben die Schuld auf die Schauspieler. Die haben natürlich nur Drehbuchanweisungen bzw. Intendantenbefehle ausgeführt ...« Dies alles ist natürlich zumindest eine gefährliche Verharmlosung, völlig klar. 22.8.2004 Herr Schröder läd zum Staatsbesuch ein, und wir neugierigen Bundesbürger schauen uns mal um im Kanzleramt. Dort gibt es eine Ausstellung verschiedener Geschenke, die man als Kanzler so erhält, besonders schön ist ein aufwendiger dunkel-purpurner Ehrendoktorhut der Universität Coimbra. Staatsschenker zu sein, jemand, der die Gaben auswählt und sich um alles kümmert - wäre das keine würdige Aufgabe? 19.8.2004 Die überwunden geglaubte Vergangenheit erwacht zu neuem Leben. Schirrmacher gelingt es, Spiegel, Welt, Bild und SZ zur Rückkehr zur alten Rechtschreibung zu bewegen, was auch uns Gelegenheit gibt, das Thema wieder aufzugreifen. Ich konfrontiere erneut und energisch die Titanic mit einem Titelvorschlag, der polarisieren könnte. Sonneborn lehnt ab. Nicht einmal auf gesunkenen Schiffen ist die Welt noch in Ordnung. 12.8.2004 Herr Doktor Möller übergibt mir »The Rosy Crucifixion I: Sexus« von Henry Miller. Ein bemerkenswertes Buch: Alle 50 Seiten kommt es zu einer Sexszene, die dann über die nächsten 30 Seiten dargelegt wird, unterbrochen nur von einem groben Handlungsrahmen und diversen Exkursen - Literatur, Inspiration und die Menschheit betreffend. Ein großartiger Porno, finden wir beide. 24.7.2004 Es geht nach München. Veronika, unsere sympathische Pharmazie-Praktikantin, ist ganz aufgeregt und sagt mir, was ich in ihrer Heimatstadt alles machen muß. Zuerst aber schaue ich bei Punk-Rock-City-DJ Egon Bordaux und der kleinen Italienerin vorbei und bewundere wieder mal die Plattensammlung. Sie müssen am Samstag leider auch gleich los, es geht nach Karlsruhe, zum Fescht. Ich gehe halt in die modernere Pinakothek und finde dort neben vielen Motiven sogar einen C64. Dann nach Unterföhring, wo die Allianz eine Zentrale baut und ich mich schmeichelhafterweise als Photograph versuchen darf - dies der offizielle Grund meiner Reise. Ich bin ernsthaft beeindruckt, mache aber natürlich nicht so viele gute Bilder, vielleicht muß ich dazu alleine sein. Dafür lerne ich Christophs aus studienbegleitenden Erzählungen bekannten Schulfreund Ingmar nun selbst kennen, der hier Bauleiter und zu meiner nicht geringen Überraschung offenbar im Begriff ist, eine Frau zu heiraten, mit der ich mich vor acht Jahren einmal einen Nachmittag lang hervorragend unterhalten habe und an die ich mich noch gut erinnern konnte. Ingmar kennt alles, Bernd Pfarr, Mißmanagement, Tron, langatmige Erklärungen sind überflüssig, es ist einfach angenehm. Zum von Veronika empfohlenen Weißwurschtfrühstück im Valentin-Musäum gibt es verschiedene Glaubensrichtungen, wir testen es dennoch und finden es recht akzeptabel - wobei ich mir nicht sicher bin, ob die rothaarige Bedienung tatsächlich ein Fernsehseriensternchen ist. 21.7.2004 »Ich ertrage dieses deutsche Gejammere nicht mehr. Will denn hier ernsthaft jemand lieber Titanic-Passagier sein? Bei den Briten ist auch nicht alles besser. Streng genommen ist dort sogar alles schlechter!« »Für einen Moment hatte ich mit dem Gedanken einer beruflichen Zukunft bei diesem Blatt gespielt.« »Mir fehlt bei diesem Plan noch der Pfiff. In unserer lächerlichen Welt kann jeder zum größten Satiriker seiner Zeit werden. Wenn Du in kürzester Zeit Titanic-Chefredakteur würdest und dann das Blatt zu einem ernsthaften Architekturmagazin machtest - das wäre ein guter Witz!« »Es würde natürlich klappen. Viktorianische Umgestaltung des Designs, Kolumnen von Sir Foster und Pei, die Rubrik »Häßlichster Neubau des Monats« (Nachfolger von Sossenheim) und später Bildstrecken zu Themen wie Kapital, Synthese oder Norden. Zuerst fänden es alle furchtbar komisch, dann furchtbar interessant und unkonventionell. Innerhalb von zwei, drei Jahren hätte sich die Abonnenten-Struktur bereinigt, und man könnte das Blatt an die Gesellschaft zurückgeben. Hinterher sagt man, es sei als Witz gedacht gewesen, aber niemand glaubt es - Higgs ist es mit seinen Bosonen ja ähnlich ergangen.« »Er beging den Fehler, die Welt empirisch zu beschreiben. Wer mit offenen Augen durchs Leben geht, weiß, daß das keine gute Idee ist. Wie wäre es übrigens mit der Rubrik 'Häßlichstes Cover des Monats', die stets das Titelbild belegt?« 17.7.2004 Bernd Pfarr ist tot. Das ist eine sehr traurige Nachricht. Manche Menschen hat man einfach gern, ohne sie je zu treffen. Außerdem stirbt Chlodwig Poth, der ebenfalls Teil der Titanic-Besatzung ist, was uns direkt zur Frage führt, wie das »Endgültige Satiremagazin« mit dem Tod umgeht. Wir sind besorgt. Damit nicht alles den Bach runtergeht, schicke ich ihnen einen magazintypisch-rücksichtslosen Titel-Vorschlag mit charakteristischem Kohl-Motiv. Allein, vergeblich. Die Titanic erscheint später mit persönlichen, wirklich liebevollen Nachrufen, das Mindeste, was man seinen Freunden wohl schuldig ist. Hinter der harten Fassade der kompromißlosen Zyniker verbergen sich in Wahrheit rücksichtsvolle Menschen mit tiefen Gefühlen. Wer hätte dies gedacht. 16.7.2004 Ich zeichne das folgende Gespräch mit Hauptfeldwebel Stefanie Fischer auf, der virtuellen Beraterin auf bundeswehr-karriere.de. Vielleicht sind unsere Streitkräfte doch ambitionierter als gedacht! Übrigens kenne ich Stefanies spacige große Schwester Nomi schon seit zwei Jahren, wir hatten mal geschäftlich miteinander zu tun. 15.7.2004 Dem bekannten Twixt-Weltmeisterbezwinger aus Karlsruhe gelingt es, eine Art kryptischer Korrespondenz mit Douglas Hofstatter zu führen. Wir wollen ihn gerne einladen nach Baden-Baden, damit er mit Douglas Hofstatter dort ein Streitgespräch führt - Thema: »Kann man heute noch ernsthaft diskutieren?« Nun müßte ich ja kontern und mit Schlingensief... aber der ist glücklicherweise aufgrund zu inszenierender Skandale in Bayreuth unabkömmlich. 13.7.2004 Ich bin gerade auf dem Sprung in die Schweiz. Wie habe ich auf die Gelegenheit gewartet, das selbst mal am Telefon sagen zu können. Besuch für ein paar Tage bei Christos in Lausanne, ich lerne die sehr bemerkenswerte Anna kennen und darf eine Kendo-Stunde und sogar einen Hubschrauberflug mitmachen (Güd'Afternun Elicoptär Brawo Charly), Stopfgänseleber und guten Käse probieren, natürlich wandern, mit Blick auf den See zu Abend essen und über verschiedene Festivals stolpern. Richtig schöne Tage. 8.7.2004 Ich lerne auf die harte Weise, daß selbstironische Sprüche in beliebter Marc-Barthold-Manier in falscher Umgebung ernst und zum Anlaß eines vernichtenden persönlichen Feedbacks genommen werden können. Tja, man darf sich eben nicht zum Eisenarm aufspielen. 6.7.2004 Die Rechtsabteilung des unaussprechlichen Kräuterlikörs mit dem Hirschgeweih hat mit knapp achtjähriger Verspätung die Existenz eines gleichnamigen Vereins bemerkt, welcher schon mehrmals Quake-Europameister wurde - und sofort reagiert. Die Spieler müssen nun einige Tausend Euro Abmahn- und Anwaltskosten zahlen, »Mittäter« nennen und sich verpflichten, niemals mehr den Namen des Liköres nicht zu benützen, insbesondere aber nicht den von mir dereinst Giger-esk veredelten (und nun ihrer Diktion gemäß »teuflischen«) Hubertus-Hürschen, zwischen dessen Geweihgabeln das Quake-Logo strahlte; Incal ist in die Zensur eingeschlossen. 30.6.2004 Spontaner Besuch aus Japan, Yoko Kobayashi (moment - so hieß doch der Anwalt von Keyser Soze!). Wir machen die Innenstadt-Tour, sie klagt über das Essen in England und erzählt von korrupten Medizinern, für die sie arbeitete. Aber jetzt, hier, ist alles gut. An der Museumsinsel gibt es »Lichtbrücken« genannte Installationen, im Kurvenstar sogar Tannenzäpfle, unser Karlsruher Spezialbier, und auf dem Heimweg wirft der alte Reiter-Fritz noch zwei riesige Schatten an die Fassaden hinter den Linden. 25.6.2004 Während wir zwei Stunden in der MoMA-Schlange vor der neuen Nationalgalerie stehen, kommt mir die Idee eines Kunstattentäter-Bedarfs-Geschäftes, mit unauffälligen Säure- und Farbbeuteln. Mobil, gleich vor dem Eingang. Das wäre doch mal kontrovers! Muß bei Gelegenheit mal mit Schlingensief darüber sprechen. 24.6.2004 Urlaub daheim: Wir gehen einkaufen, fatalerweise Schuhe, und stoßen am Hackeschen Markt auf ein Sondermodell der aus dem letzten Tarantino-Film bekannten Onitsuka Tigers, was gekauft werden muß. Damit ist man der Hamburger Schanze wohl gewachsen. Wenige Meter später gibt es noch Damenslips mit an passender Stelle aufgedrucktem Eifel- bzw. berliner Fernsehturm zu bewundern. Später testen wir ein weiteres der hiesigen Halbe-Hähnchen-Restaurants, die alle nicht an die pfälzer Gockelburg herankommen, und laufen zum Oberbaumbrückenfest. Dort gibt es, natürlich auf der guten kreuzberger Seite, einen kleinen kubanischen Stand mit angeschlossener DJ-Station, wo eine attraktive schlanke blonde Frau Musik auflegt, ja, Musik! Grandios, pompöser als »Apache« von Fatboy Slim und mit viel Gesang, ein Stück nach dem anderen, man verliert die Beherrschung! Die Menschen tanzen mit Cocktails auf der Straße, während hinter der Oberbaumbrücke ein Feuerwerk gezündet wird. Als wir daheim sind, habe ich alle sachdienlichen Hinweise auf die Musik vergessen. 20.6.2004 Hurra, ich werde 30. Ich bin schon Wochen vorher mies drauf, wie es sich gehört, man zieht ja Bilanz und blickt in die Zukunft. Am Ende fahre ich mit der Bande mit zu Maarten nach Amsterdam, der sich dort mit 70er-Jahre-Möbelklassikern und Blick auf eine Windmühle hervorragend eingerichtet hat. Hinter ein paar Stühlen lehnt noch ein Bild an der Wand, »Maarten! Du hast einen Picasso! Warum hängst Du ihn nicht auf?«, ja, er hat ihn geschenkt bekommen, »nicht mein Ding«. Die Niederlande sind zur Zeit für Deutsche unsicher, die Reisewarnung des Auswärtigen Amtes liegt vor, man rechnet mit Ausschreitungen - natürlich, Fußball, »recht eigentlich Ausdruck der kläglichen Seite der Menschheit« (Schopenhauer). Wir gehen in eine einigermaßen neutrale Kneipe und überstehen die EM-Spiele körperlich unverletzt. Später dringen wir in eine private Graphikdesigner-Abschlußfeier ein, werden rausgeworfen, und machen eine Ecke weiter weiter, stets begleitet von einem Zauberwesen namens Inga (sie ist viel schöner als auf diesem Foto) und ihrer Freundin, die Papa Möller einen unmöglichen Holland-Fan-Schal vermacht. Völlig fertig kriechen wir um vier nach Hause. Ja, man wird alt, und für Christophs Kriegsverletzung (Codename: Blutwurst) war das auch nicht gut. Nur Maarten, die Maschine, scheint folgenlos nur von Alkohol und ohne Schlaf leben zu können. In Berlin begegnet mir noch die kleine Schwester von Uma Thurman, Blick und Turnschuhe stimmen jedenfalls. 16.6.2004 Wir sind sportlich und haben ein Schering-Laufteam gebildet, um an einer 5x5000m-Staffel teilzunehmen. Alle trainieren, es gibt eine Generalprobe, bei der wir abwechselnd Antjes Kinder in einem Laufwagen vor uns herschieben und dafür mit ausdauerndem »Schneller, Propeller!« angefeuert werden - und heute endlich den Lauf. 1600 Teams sind gemeldet, 800 starten heute, und obwohl uns ein Generika-Hersteller überholt, kommen wir mit einer schönen Zeit ins Ziel. Später, beim Picknick, fühlt sich der abendliche Tiergarten mit den hinter den Bäumen aufragenden Gebäuden vom Potzdamer Platz an wie der Central Park. 14.6.2004 Vor dem kaiserzeitlichen U-Bahnhof Wittenbergplatz am KaDeWe steht eine KZ-Gedenktafel, die etwas an ein Baustellenschild erinnert: Orte des Schreckens, die wir niemals vergessen dürfen. Tausende sehen sie täglich ungewollt beim Einkaufsbummel, und würde man die Tauentzienstraße noch von moderner (entarteter?!) Kunst befreien, das Schild wäre eindringlicher, als es das fußballfeldgroße Ego-Projekt von Frau Rosh je sein kann, Degussa-Grafitti-Schutz hin oder her. Im Gedenkbereich sieht die F.A.Z. nun Deutschlands Zukunft und plant schon mal. Natürlich muß in 10 Jahren die runde Hundert des großen Waffenganges gefeiert werden, vorher aber sind unsere fußballerischen WM-Erfolge dran: Den zweiten Titel sollte man noch diesen Sommer ausschlachten: dreißig Jahre Zweiter Weltsieg - in Zeiten, in denen sich die Schatten der jüngeren Fußballgeschichte auf unsere Gemüter legen, ist das ein schöner Termin. Doch an genau diese Schatten möchten uns um das Gemeinwohl besorgte Mitbürger erinnern, und enthüllen vor der DFB-Zentrale eine Kopie der erwähnten KZ-Gedenktafel: Orte des Schreckens, die wir niemals vergessen dürfen. Dem Deutschen Fußball-Bund zur Mahnung aufgelistet sind dort etwa Wembley (1966, 2:4 gegen England) oder Córdoba (die Schmach von, 1978, 2:3 gegen Österreich!). Ob diese »Dauerpräsentation unserer Schande« (Martin Walser) etwas bewirkt, muß man abwarten. Da ist er wieder, der Walser! 13.6.2004 Ich wache zu früh auf, habe Kopfschmerzen und überlege, wie lange ich noch liegen bleiben muß, bis es wieder besser wird. Das Morgenlicht aus dem Fenster schräg neben meinem Bett blendet mich, aber ich schaue trotzdem hin. Plötzlich, mit einem lauten, splitternden Knall, fetzen berstende Scheiben und Rahmenfragmente waagerecht aus der Fensterhöhle. Ich stehe senkrecht im Bett. Eine Bombe, draußen, die Druckwelle, rausschauen. Das Fenster ist heile. Ein Traum. 12.6.2004 Aus Karlsruhe erreicht mich eine Eilmeldung: Straßenbahn bis Wolfartsweier! Endlich! Das Volk tanzt auf den Straßen! Probefahrt fantastisch und kostenfrei! Ich kann all die Nachrichten kaum fassen: kafkaeske italienische Kneipen, in denen Jagdquartette auf Blech gegeben werden, Brot/Brötchenabstellverbotsschilder in Parks, eine Internet-Fußgängerzone mit Weltherrschaftsanspruch und lächerlichen roten Plastiksofas, die schwarze Zahlen schreibt, und jetzt das. Ich tippe auf Illuminaten oder Außerirdische. Zurück nach Berlin. Was Mario uns zeigt, ist für Kenner bestimmt ein alter Hut, für mich aber sehr cool: im Prenzelberg gibt es eine subversive Tischtennis-Kneipe namens Dr. Pong, vom Namensträger betrieben und mit einer JOOLA-Platte am Start. Es wird Rundlauf gespielt, mit größtenteils abgebrochenen Schlägern und bei ausgezeichneter DJ-Musik. Ein etwas kleinerer Brillen- und Bartträger gewinnt fast immer und spielt mit einem etwas genervten Gesichtsausdruck, als sei er Europameister und vertraglich verpflichtet, die Amateur-Gäste jeden Abend 40mal zu besiegen. Bei Dr. Pong spielt man übrigens nicht immer konventionell - an manchen Tagen gibt auch noch eine westfälische Variante ohne Schläger namens Diäsch, deren Anhänger einen Kult um Schildkröt-Weltmeisterschaftsbälle von 1959 machen. 9.6.2004 Helge ist mal wieder da, und wir schauen ihn uns im Tempodrom an. Seine neue Tour heißt Füttern verboten, und er hat ein paar schöne Neuheiten dabei, etwa »Da stehen sie wieder in Zweierreihen vor der Pommesbude und warten auf das, was ihnen gebührt«. Als Zugabe gibt er seine Franz-Josef-Degenhardt-Collage »Spiel nicht mit der Schmuddel-Oma«, und denkt sich die Handlung komplett neu aus. Nur Schlecker, der Monopolist, bleibt uns erhalten. Das ist Jazz. 7.6.2004 Ich suche russische Literatur, modern aber klassisch. Im Original. Nicht für mich, sondern für Ida, die gute Seele der Praxis meines Vaters, die unter anderen Umständen selbst hätte Ärztin werden können. Als Überraschung. In Berlin gibt es doch russische Bücher, da, wenn man vom Potsdamer Platz kommt, frag da einfach mal. Leider weiß ich nicht, was sie mag, und Lena, meine St. Petersburger Bekannte, weigert sich unter diesen Umständen kategorisch, irgendetwas zu empfehlen. Lena ist Medizinerin und hat scheinbar ein paar Gemeinsamkeiten mit Ida, doch ich kenne beide nicht genug, um urteilen zu können. Also gehe ich ins russische Haus, um mich beraten zu lassen. Dort in der Friedrichstraße steht man Klischees nicht unaufgeschlossen gegenüber: Am 12. Juni, dem Tag Russlands also, gibt z.B. das Moskauer Puppentheater Albatros ein Gastspiel namens Der Gute Iwan, und so fort. Mit meiner neuen Jacke sehe ich aufrührerisch aus, und die Frage nach Büchern ist auch nicht unverdächtig. Ich werde auf Waffen untersucht und einsilbig nach oben verwiesen, wo mich in einem Souvenier- und Buchgeschäft eine Verkäuferin russisch grüßt. Ich trage mein Anliegen vor: Etwas gutes. Eher klassisch. Hier, sehr gut. Der hier, auch sehr gut. Wie alt ist sie. Hm. Nein, doch nicht gut, findet die Verkäuferin dann, und eine andere Kundin pflichtet bei: junge Frauen unter 60 brauchen etwas moderneres, wie Klahßiker, aber vohn choite. Ganz meiner Meinung. Zu zweit suchen sie unter den vielen sehr guten Büchern etwas aus, zum Beispiel dies hier, mit Humor, sehr gut. Nach wenigen Minuten habe ich einige Pfund Papier in Duty-Free-Tüten verstaut und an einer lustig schnarrenden Kasse bezahlt, gerade rechtzeitig, um noch einen Blick auf die Ballett-Darbietung im Saal nebenan werfen zu können. 5.6.2004 Niemand hier im alten Europa würde zugeben, daß der gegenwärtige US-Präsident in irgendeiner Form als Vorbild tauge oder daß man sich sogar durch sein martialisches Auftreten, etwa in Pilotenkluft auf einem Flugzeugträger, beeindrucken lasse. Und so überrascht es mich doch sehr, daß ich heute in mehreren Klamottenläden Jacken sehe, die, einmal angezogen, dem Träger genau den Look von militärischem Flugpersonal geben. Ja, ein sehr moderner Schnitt, meint ein Verkäufer. Europa rüstet auf. Ich aber widerstehe der Versuchung, vorerst. 1.6.2004 Still und heimlich hat Sony den wirklichen Erfinder des Walkmans entschädigt, und genau so still hat TXP ein acht Jahre altes Programmierkunst-Projekt beendet. Der passende Computertyp aus England ist heute längst ausgestorben, aber angesichts der Veröffentlichung erinnert man sich dort wieder an uns und unsere relentless arrogance... ich schlage es schnell nach und freue mich, was für ein Begriff! 30.5.2004 Nach einem nicht ganz so verheerenden Firmenfest im Interconti wecken mich samstags meine Cousins, die eingefleischte Fans eines Fußballvereins aus Bremen sind. Abends tun die Kicker dann auch ihre Schuldigkeit und gewinnen einen großen Becher, den meine Cousins anfassen und fotografieren. Am nächsten Tag zeigt sich Berlin von seiner besten Seite: Sommerwetter, Freunde, die man zufällig im Dorf trifft, und ein Volksfest mit Musik und Bühnen, auf denen z.B. Formationen aus Neukölln einer durch Kill Bill anspruchsvoll gewordenen Meute die Geheimnisse der Shaolin-Schule zu demonstrieren versuchen: Karneval der Kulturen. Vor allem aber gibt es einen Umzug, der mit tanzenden Brasilianerinnen, Fakiren und 900.000 Schaulustigen (!) direkt an meiner Haustür vorbeizieht. 29.5.2004 Interessant ist ja, wie Ernst Jünger zu sagen pflegte, vor allem zweierlei: a) daß es kaum jüngere Jünger-Jünger gibt b) daß der jüngere Jünger ernster war als der spätere Ernst. - soweit der künftige Karlsruher Twixt-Weltmeister. Das kann ich alles sofort unterschreiben, und Jünger der Ältere ist ja auch ein klangvoller Name. Man muß nur aufpassen, daß kein Privatsender das Motiv für eine Talkshow ausschlachtet, oder am Ende der unvermeidliche Walser in seiner nächsten hochumstrittenen Rede ein »reinigendes Stahlgewitter« fordert, damit die Jünger endlich den Ernst begreifen! 28.5.2004 Eine Doppelgängerin von Sonja hat es geschafft, das Titelbild eines neuen Lifestyle-Magazins zu erobern und kurzfristig alle Werbeflächen der BVG zu dominieren. Die richtige Sonja hat allerdings keine Tätowierung auf dem Handrücken. 25.5.2004 Führende Theoretiker stoßen auf eine neue Staatsform, die Kafkokratie: alle Mitspieler werden nur mit einem Buchstaben benannt, jedem kann jederzeit aus unerfindlichen Gründen der Prozess gemacht werden, und dennoch kommt niemand vor das Gesetz. Einzelne verwandeln sich in riesenhafte Ungeziefer. Alle anderen führen ein normales Leben und scheinen glücklich zu sein. Scheinen! 26.04.2004 Normalerweise ist die autoritär-bürokratische Macke der Berliner ein lustiger Rest Preußens. Manchmal kann man sich aber auch darüber ärgern, etwa, wenn man zum ersten Mal seit fast zwei Jahren sein Portemonnaie samt zwangsweise übertragbarer U-Bahn-Jahreskarte daheim vergißt und sofort von drei hochaufgeweckten Häschern der BVG gefasst wird. Diese überprüfen per Handy beim Einwohnermeldeamt meine Personalien und sagen mir, ich müsse für die Reststrecke eine Karte kaufen, da ich, wenn ich vom nächsten Kontrollteam erwischt würde, zum 2. Mal überführt wäre und dann 40 Euro zu zahlen hätte, so seien die Regeln, die es ja geben muß, und an die muß man sich halten. Allerdings habe ich ja, Hallo Mac Fly, mein Portemonnaie vergessen, also auch kein Geld. Was soll ich also tun? Zu Fuß laufen? Die drei Droiden sind nicht in der Lage, solche Gedanken nachzuvollziehen, widerholen also, ich dürfe nicht fahren und ich solle mir merken, daß sie mich darauf hingewiesen haben, weigern sich, einen Kommentar auf meinen Strafbescheid zu schreiben, das dürften sie nicht, und erst recht seine sie nicht in der Lage, kurz mitzukommen und meine Jahreskarte anzusehen, man habe ja nicht ewig und schon gar nicht 10 Minuten Zeit - wobei sie mich mittlerweile eine Viertelstunde festhalten. So werde ich also morgen meine übertragbare Dauerkarte vorzeigen, mir anhören, die sei ja übertragbar, ich also schwarz gefahren, vergeblich auf die diesbezügliche Debatte mit den Kontrolleuren hinweisen, und nach Zahlung von 40 Euro vorbestrafter Schwarzfahrer sein. So wie in Hannover. Argh. 12.04.2004 Auf dem Rückflug Tokyo-Wien zeigen die Österreicher dem überwiegend japanischen Publikum tatsächlich Lost in Translation. Für mich ist es perfekt, ich kenne jetzt ja sogar die Bar im Hyatt, das Fernsehn und die Stationsansagerin mit ihrem Kyoto, Kyoto des. Noch 4 Stunden Warten in Wien, dann geht es heim. Am nächsten Morgen sitze ich im ICE nach Hannover, natürlich wegen Personenfalls verspätet, und schaue durch die großen Panoramafenster auf die leere grüne Tiefebene. Der Zug zuckelt ohne Eile dahin wie ein Regionalexpress, ja, ich bin wieder daheim. Dann fällt mein Blick auf die Anzeige: 250 km/h. Hoppla. Wir kommen beinahe pünktlich an. Der Bahnhof ist gut gefüllt, aber es wirkt ruhig und leer auf mich. Der bekannte Museums-Effekt, nach nur zwei Wochen. 26.03.2004 Kraftwerk gibt en Konzert und erteilt uns eine Lektion in Sachen Coolness. Die vier Typen stehen regungslos in Reihe vor Keyboard-artigen Tischen, auf denen sie ihre Notebooks aufgeklappt haben, und steuern das Videoprogramm hinter sich, etwa so: Auf blauem Grund erscheint ein Autobahn-Zeichen, die Menge jubelt, Musik beginnt, und die Figur ganz links hebt kurz das Mikro und singt Fahrn fahrn fahrn auf der Autobahn hinein, um dann wieder zu erstarren. Bei der Zeile Sie stellt sich zur Schau für das Konsum-produkt müssen Caschi und ich beim letzten Wort fast loslachen. Später lassen sie die aus einschlägigen Fernsehsendern bekannten Puppen auftreten (die natürlich Wir sind die Roboter singen), dann laufen sie in ihren Drahtgittermodell-Kostümen auf. Gelungen! 16.03.2004 Mein bester Augenarzt von allen erzählt, wie durch einfache bürokratische Behandlung ein Umbau statt 40.000 Euro mal eben 7,5 Mio. kostet, und wie seine Patienten im Pflegeheim auf auf ein Haben Sie das schon mitbekommen? Der Bundestag hat Schröder heute zum Kanzler auf Lebenszeit gewählt reagieren (natürlich wurde es von niemandem bezweifelt. Diktatur, war allen sofort klar... die Frauen waren eher sorgenvoll, was mag jetzt wohl kommen, ob das so gut ist? - und auf jeder Station war ein kräftigerer, etwas untersetzter Kerl, der schon immer gewußt hat, daß dies passieren würde - und es dann mit einem 'Ist auch gut so!' quittierte. Nur eine etwas schlauere Pflegerin war im Zweifel. Diktator? Ausgerechnet Schröder? Für solche Aktionen hätte er den Kronpreis verdient. 27.2.2004 Das Telefon. Ob ich spontan sei. Kurz darauf sitzen wir zu viert in einem japanischen Dreizylindergefährt und jagen nach Prag, laufen mit fast ortskundiger Führung durch die schöne, aber noch kalte Stadt, trinken beachtliche Mengen guten Biers und entdecken sogar einen Louis-Armstrong-Keller, in dem nur er gespielt wird. 22.2.2004 Morgen in Braunschweig bei Claas, der als Postdoc nach Mailand oder Göteborg geht. Sein kleiner Junge ist jetzt auch schon über 4. Auf der nächtlichen Rückfahrt bremst der weiße Zug plötzlich, und die Weiterfahrt verzögert sich wegen einer Person im Gleis um unbestimmte Zeit. Die Berlinerin gegenüber hält sich genervt darüber auf, was das denn solle, all die Leute aufzuhalten, dann soll man denen doch nen Revolver geben usw. - und als sie mitbekommt, daß da wohl keiner mehr herumläuft, wird sie ganz verlegen und möchte am liebsten allen erklären, daß sie das nicht so gemeint hat. In der U-Bahn fällt mir noch auf, daß Berlin eine Stadt voller Schuh-Fetischisten ist; alle haben jetzt schicke, sportlich angehauchte Schuhe, die es höchstens in 100er-Auflage in kleinen Läden um den Hackeschen Markt herum gibt. Und einige sind richtige Meisterwerke, so ästhetisch wie noch nie; Frauen tragen sie wie Schmuckstücke, die hübsche, unscheinbare Frau gegenüber zum Beispiel, die durch ihre unaufdringlichen, aber perfekten Schuhe zeigt, daß sie eigentlich die Heldin einer größeren Geschichte ist. Vielleicht mache ich mal eine kleine Bilderserie. 21.2.2004 Sightsseeing mit 2 1/2 irischen Serben, die dann im Regionalexpress nach Braunschweig in eine äußerst hitzige Debatte über Vorzüge der Demokratie geraten, die schnell von Englisch ins Serbokroatische wechselt, von einem You can't compare Bush with Milosovic! You can't Compare.. zwischendurch mal abgesehen. Der Abend bei Claas geht lustig weiter, ein russischer Israeli traut dem CIA schier Unglaubliches zu und meint u.a., freie Medien seien deshalb in Russland nicht möglich, ferner, daß er über alle Seiten informiert sei, wir dagegen einseitig, und daß CNN ein antisemitischer Sender wäre - womit er Huntingtons Clash of Civilizations unfreiwillig bestätigt, und auch unseren ex-US-Englischlehrer füttert, der Israelis an sich für extrem unnachgiebige, rechthaberische Knochen hält. Tja, aber lustig war es schon. 20.2.2004 Wir sind in einem Jazzladen mit experimenteller Vocal-Combo und sitzen als einzige an der Seitenwand. Ich kann dem Klavierspieler über die Schulter durch den Flügel durch der Sängerin ins Gesicht sehen - sie dreht sich zu ihm um und fixiert ihn ganz merkwürdig, manchmal minutenlang. Dazu kommt dann z.B. ein sehr eigenwillig interpretiertes Spannenlanger Hansel, Nudeldicke Dirn' Geh'n wir in den Garten Schütteln wir die Birn'. Schüttle ich die großen, Schüttelst du die klein' Wenn das Säcklein voll ist, Geh'n wir wieder heim. Der Pianist nimmt dabei auch mal ein Transistorradio ans Ohr und fummelt mit einer Hand dran rum, während er mit der anderen weiterspielt, oder er spielt E-Gitarre mit einem kleinen Handventilator. Naja. 18.02.2004 Das Netz, nichts menschliches ist ihm fremd. Einen Tag lang bin ich verstört durch das Foto rennender Menschen, getrieben in eine Gaskammer von Auschwitz, unter hoher Lebensgefahr von einem Sonderkommande-Häftling aufgenommen, und die Innenaufname vom Ofenraum, und die anderen Bilder, und die Beschreibung der definierten, nacheinander auftretenden Schocks neuer Sonderkommando-Mitglieder. Am nächsten lese ich Details der Aktion Reinhard. Über die Illusionen, die man den Todeskandidaten machte, den Schlauch in den Vernichtungslagern, die Stiftung Hofrat und die Blumenkübel an den Treppen der Gaskammergebäude, lebendig begrabene Kinder, das Rennen durch den Schlauch, Roste aus Gleisen, Details des Alptraums. Die Beschreibungen appellieren an die verstehende, technisch erfassende Seite, und dadurch, daß ich die Methoden erkenne und schließlich »weiß«, wie ein Millionenmord effizient und fast ohne Mitwisser begangen werden kann, entsteht nicht nur Abscheu vor den Menschen, die dies ersannen, sondern auch vor der eigenen Phantasie, die sich in technische Gedanken instinktiv einfindet und ihre Perspektive von innen zu verstehen sucht. Und dann Kälte, schützende Abstumpfung. In der U-Bahn läuft ein Beckham für Arme herum, der bedruckte Din A5-Blätter verkaufen möchte, für 50 Cent, was tausendfach zu wenig sei für diese Zettel. Die Worte darauf könne man zehntausendmal lesen, und so fort, wer es nicht kenne, sei verloren, weiß er mit leicht rechthaberisch-herrischer Stimme. Er dreht sich um und bietet mir einen Zettel an, und als ich ihn ob seines kommerziell-ideologischen Verhaltens ignoriere, schaut er mir bestimmt in die Augen und sagt knapp »Du wirst sterben«. An anderen Tagen hätte Clint Eastwood zwischen den Zähnen durch »Du - zuerst« erwidert und den Kerl dann umgenietet. Heute trifft ihn nur ein etwas trauriger, steppenwölfischer Blick. 13.02.2004 Eben überquerten zwei Knirpse die rote Ampel, während 6 Erwachsene ihretwegen davon absahen. An der zweiten Ampel dieser Kreuzberger Kreuzung verzichtete also eines der großen Vorbilder auf diese Höflichkeit, was von den höchstens siebenjährigen Kindern, die diesmal nun warteten, mit einem in vollkommenem, vorwurfsvollem Elternton hinterhergeworfenen Sagen Sie mal...! / Also wirklich quittiert wurde. 27.01.2004 Berlin hat tatsächlich etwas von diesem New-York-Faktor. In der U-Bahn entdecke ich einen Typen mit weißem Nerzmantel, schwarzen zottigen Haaren, Bart, breiter Sonnenbrille, Udo-Lindenberg-Hut und neongeringeltem Pulli darunter. Das muß man erstmal bringen. Aber der Metropolenfaktor besteht daraus, daß niemand sich auch nur für 2 Cent dafür interessiert. 25.01.2004 Das neue Jahr beginnt mit guten Filmen. Dogville, Lost in Translation (englisch und passend im Sony Center), und der Invasion der Barbaren. Dann entdecke ich eine der angeblich besten Videotheken des Landes, direkt um die Ecke, und schaue mir sogar Ingmar-Bergmann-Filme an. 21.12.2003 Berlin-Moskau, Ausstellung im Gropius-Bau. Innen ein großer Gurski (Klitschko), Dali-Bilder, ein kollossaler Lichtschrein, und viele bemerkenswerte Details. Ein Klagebaum aus geschwungenen Kupferrohren mit Trichtern an ihren Enden. Monumentale Bilder in faschistischer, sozialistisch-realistischer- und moderner Werbeästhetik, keines hat ein seiner Ästhetik entsprechendes Motiv. Sowjetische Propagandabilder, 1:1 von Leni Riefenstahl kopiert, wie ich nach dem Studium von Lenis Triumph des Willens sofort entlarven kann. 18.12.2003 Ich erstehe eine der erlesensten Flaschen Champagner der Stadt beim unten erwähnten Dealer. Und wo man schon mal in Mitte ist, kann man ja auch mal wieder Langzeitbelichtungen machen. Das Bild hatte ich schon lange vor. 7.12.2003 Pfeiffer mit drei F. Ackermann. Feuerzangenbowle mit Original-Heinz-Rühmann-Set und zwei Buddeln Rum, die ganz schön lange und dabei feste schwarze Karameltexturen in die Schüssel brennen... Diskussionen darüber, was sehr euphorische e-Mails von einer Weltreisenden über sie sagen könnten, Blicke in die Zukunft, und dann doch noch eine dritte Bowle. Jaja, wir Kinder vom Bahnhof Rezession, schreibe ich Christoph später. 3.12.2003 Konzert von Melt Banana. Bin krank, werde aber von Peter spontan überzeugt, zu diesem Konzert zu kommen - schon wieder im So36. Melt Banana ist eine krasse japanische Elektro-Punk-Band, deren Sängerin immer nur wenige Worte ins Mikrofon kreischt. Der Gitarrist hat mehrere Pedalregler, mit denen er erstaunlich krasse Feedback-Effekte hinbekommt, und eine archaisch mit weißem Klebeband am Gesicht festgeklebte Atemschutzkappe. Dazu noch zwei Streifen schwarzes Panzerband als x auf das weiße T-Shirt, und man ist cool. Während er spielt, hüpft er herum wie ein Quake-3-Profizocker... hier zwei geklaute Beispielfotos: Banana1 und Banana2 30.11.2003 Loriot in der Philharmonie. Er muß gar nicht viel machen, um sich stürmischen Applaus einzuhandeln. Und man lacht über Witze, die außerhalb der Mauern niemand versteht: Zum Abschluss nun den Ungarischen Tanz Nr.5 von Johannes Brahms, ein Name, den man sich auch in Berlin wird merken müssen. 26.11.2003 Konzert von Mars Volta. Gehe mit Martin ins eher schlicht gebaute SO36, wo die Kerle auftreten. Ein Pressefotograf startet von Hinten eine Pogo-Welle, auf der er sich dann nach vorne treiben lässt. Nach einer Stunde kommen sie raus und fangen an. Der Gitarrist ist cool und sieht gefährlich nach Tingel-Tangel-Bob von den Simpsons aus, der Schlagzeuger hat ein politisch korrecktes Fuck Bush-Hemd an, und der Sänger ist ein außerweltlicher Jongleur, der mit dem Mikro die Highhat oder sich selbst so lange gegen den Kopf schlägt, bis man das Knacken hört. Zusammenhängender Gesang ist auch eher selten, es erinnert alles eher an experimentelle Deep Purple-Strecken, ist allerdings nicht unkrass. Ich falle vor Müdigkeit fast um, und als die Band ohne Zugabe plötzlich Schluß macht, bin ich nicht böse. Beim Hinausgehen erlebe ich noch die skurile Anmache einer Flaschenpfandsammlerin. Später sind wir beim Thema Döner - wo ist der beste Laden in Kreuzberg? Alle haben nur diese Tortendöner mit homogener Fleischersatzmasse. Dafür kosten sie hier aber auch nur einen Euro - Bei mir kostet er 1,50! - 1,50?! Wucher!! 23.11.2003 Frühstücksbuffet bei einem Araber im Prenzlauer Berg, wo es tatsächlich eine Raumer-Straße gibt. Wir unterhalten uns über gängige Definitionen eines Raumers (Größenordnung: Millenium-Falke) und Inter-Cluster-Reisen allgemein. Der Araber macht erst um 11 auf, was beweist, daß wir in einer anständigen Stadt wohnen, wo man davon ausgeht, daß niemand Sonntags früher aufsteht. Abends und in den folgenden Tagen erlebe ich die Wunder exotischer Computerfehler und bange mal wieder um meine Daten, was mich zu Kurzschlußhandlungen verleitet und in den Besitz eines teuren RAID-Controllers bringt. 21.11.2003 Freitag reiße ich mich um Mitternacht doch noch zusammen und gehe weg. Irgendwo oben in Mitte gibt es ein altes Kaufhaus, in dem eine Live-Demo stattfindet. Türsteher aus menschlichem Beton sorgen dafür, daß niemand weniger als eine Stunde wartet, bis er hineinkommt - es sei denn, er kommt von viva, kennt jemanden oder ist weiblich, attraktiv, Winona-Double und sagt we're the dancers. we're the decoration. Let us in. Drinnen zuerst eine schwarzgrüne x-box-Landschaft mit Konsolen-Freaks, dann eine Tanzfläche im Hauptverkaufsraum mit einer Band, deren Musikgeschmack ich nicht teile, und oben in der Galerie eine weitere Bestätigung des Berlin ist ein Dorf-Effektes: Da ist Tom, den ich vor ein paar Monaten auf der Abi-Wiedersehensfeier in Hildesheim zuletzt und davor Ewigkeiten lang überhaupt nicht gesehen habe (und der im Gegensatz zu mir unseren Nobelpreis-Plan aus der 11. Klasse nicht begraben hat), samt Chef aus der Charité und vor allem einer Frau namens Katha, die ich sofort heiraten würde, aber wohl nie wieder sehe. Such is life. 3.11.2003 Der alte Mann war mal wieder in der Stadt, und er kann noch immer singen. Großartiges Bowie-Konzert, es wird etwas länger dauern, bringt euch also Butterbrote und eine Thermoskanne Tee mit. Zwischendurch hält er kurz inne, meint dann...nineties. yes, I think, nineties, und spielt was aus den Neunzigern. Dazwischen auch Sachen aus allen anderen Jahrzehnten, a lot of which you know, something you don't know and something you think you -might- know. - und Under Pressure von Queen, mit femininer Gesangsverstärkung für die hohen Töne. Heroes dann halb englisch, halb deutsch. Nach drei Stunden sind alle glücklich k.o., und die Band verabschiedet sich wie im Theater mit Gruppenverbeugung in alle Richtungen... Später wartet an einer Umsteige-U-Bahn-Station hinter mir ein älteres englisches Paar. He's got terrible hair - Who? - Bowie - Um, yes. With a decent haircut, he'd look rather good 24.10.2003 Wo findet heute noch Dialoge wie diese? Wir brauchen etwas Energie. Haben Sie hier wohl irgendwo einen Mini-Atomreaktor für uns? oder Das ist keine leere Drohung. Ich habe nämlich vor, Herrscher des Weltalls zu sein ... Irgendjemand sendet tatsächlich Doppelfolgen alter 80er-Jahre-Comics im Freitagabendprogramm. Captain Future! 21.10.2003 Eine Viertelstunde Fußweg von mir entfernt ist die Columbiahalle. Da spielt gleich eine dreiköpfige Band, deren neues Album angeblich nicht an die letzen herankommt. Gebe mir zwei Bier und stehe irgendwo seitlich in der Mitte. Dann tauchen die Jungs nach endlosem Bühnenumbau endlich auf - der etwas extrovertierte Sänger ist auch noch Keyboarder und Gitarrist, sein Keyboard hat er in eine LED-bestückte Metallburg verwandelt, und die Gitarre sieht aus, als sei sie ein oft hingefallener Spiegel mit vielen querlaufenden Sprüngen - Schlagzeuger und Bassist machen einfach ihren Job. Und dann kommen hinter mir 300 Leute auf die Idee, Pogo zu tanzen. Dauert nicht lange, und man steht ganz vorne, 6m vom Sänger weg, im Pogo-Meer. Neben mir fotografiert ein Mädel, das nach der Frau aus dem 'Leben ist eine Baustelle'-Film von Tykwer aussieht; die Musik ist laut und intensiv, es ist schwer, die Stellung zu halten, und der Sänger krümmt sich auf dem Boden und spielt weiter und weiter. Ja. Muse. Man fühlt sich wieder so jung... 18.8.2003 Helge. Der Junge wird immer besser. Von Pommes kriegt man Pickel, ist mir scheißegal., Rock zum Mittanzen, daneben Jazz und die übliche Chose, tendentiell akademisches Publikum, familiäre Stimmung, man ist unter Gleichgesinnten. Die After-Show-Party ist so geheim, daß sich nur 5 Leute in die abgelegene Ostkneipe verirren. Und Herrn Schneider, der, wohl enttäuscht von den fehlenden Groupies, den Laden dann auch nur kurz inspiziert, kann man ohne Perrücke und Sonnenbrille fast nicht identifizieren. Am Ende bin ich von der Straßenbahn-Stationsansagerin fasziniert, die vergeblich versucht, alles erotische ihrer Stimme durch Sachlichkeit zu unterdrücken 22.7.2003 Ich sehe zum ersten Mal den Kreide-Mann, der immer Sprüche auf die U-Bahn-Fußböden schreibt. Heute schon Auto, Handy, Computer verkauft? Blond, 1,80, 35, Tasche, sehr normal, steht mitten im Leben. Komplett unverdächtig, der perfekte Terrorist. Eat the rich! Er ist verdutzt, nein, kein Kunstprojekt, und meint, er wäre für Umwelt- und Tierschutz und sowas. Aber auch Terroristen machen Fehler: Dead man tell no tales. 19.7.2003 Eine Bekannte präsentiert heute angeblich Fotos im unbenutzten Reichstags-U-Bahnhof. Ich laufe mal auf Verdacht hin und komme unbehelligt hinein. Unten laufen verschiedene Vorbereitungen, Präsentation der »Abschlußarbeiten Foto, Mode & Design zum Thema Image« einer passenden Akademie. Stände werden aufgebaut, und dann beginnt auf einem großen Laufsteg die Generalprobe der geplanten Modenschau - 20 Models in Papierkostümen oder Kleidung zum Thema Französische Revolution oder mit Jetons behängten Spielereien. Im Hintergrund die Choreographin. Ich gehe ins zukünftige Gleis runter und an der Absperrung vorbei in den Tunnel... Später, nachts, erfahre ich viel über englische Möbel und die dubiosen Praktiken stilloser russischer Frauen, die alle nur auf Geld aus sind und sich reiche Männer am Ku'damm schnappen. Ich bin gewarnt, aber leider nicht reich genug. 12.-13.7.2003 Idstein, das jährliche Familientreffen. Alle acht Kinder da, es wird gegrillt und Activity gespielt, eigentlich ist alles wie immer. 10.7.2003 Besuch aus Japan, 23 ist er, Techno-Fan und zum ersten Mal im Ausland - er bekommt also das volle Deutschland-Programm. Heute bin ich dabei, und wir starten mit traditionellem Essen (Leberkäse, Weizenbier, Brezeln), bevor wir ihn nach einem Innenstadtrundgang in den Tresor schleppen, den er sogar vom Namen her kennt. Es gibt Bier aus Plastikflaschen und laute Musik mit Stroboskoplicht, zu der wir nach einer Weile etwas widerwillig tanzen. Dann macht im Keller der eigentliche Laden auf... 8.7.2003 Unser Projekt heißt jetzt JITI - die gemeinsame IT-Lösung. Als ich Joint Information Technology Implementation vorlese, werde ich wegen Zynismus gerügt. That's Schering. Mein bester Augenarzt von allen klärt mich darüber auf, daß wir in einer Bananenrepublik leben. Schauen Sie sich mal die Geschichte des Krankenhauses Moabit an. Nein, kein Berliner Phänomen, das ist bundesweit so. Gigantische Korruption, und die Medien berichten über Lappalien. Am nächsten Abend schaue ich zur Probe die Tagesschau. Erstens: in einer Gewerkschaft gibt es eine ergebnislose Debatte. Zweitens: Ein TV-Moderator bekennt sich schuldig, Drogen genommen und bezahlten Sex gehabt zu haben, und tritt zurück. Drittens: Der Bundeskanzler erwägt weiterhin, keinen Urlaub in Italien zu machen. Fünftens: Irgendwo in Afrika gibt es 100 Tote bei einem Flugzeugabsturz, jaja, die Zustände da unten, was soll man machen. Das Wetter. 6.7.2003 Glaskirschen, so viele gute rote leckere wie noch nie. Komfort-Karte, weißer Zug, Braunschweig, Marc ist da, Katerfrühstück, die heute völlig lachfaltenfreie Christina zieht sich Malins rosa Feenflügel an und wird selbst zu einer, Malin beweist, aus was für einer offenen Familie sie stammt, und dann müssen wir schon wieder los. Die Männer diskutieren auf der A2 über Politik. Berlin. Schnell noch Musiktipps saugen, Moloko. Besuch mit noch mehr Musik. Nova Jazz, feine Sache. Nein, ich kann kein Rohypnol besorgen. Untypische chinesische Ente essen. Was für ein Tag. 5.7.2003 10-Jahres-Abi-Treffen. Fast alle sind wiedererkennbar und in der Region geblieben. Ärzte, BWLler, Grundschullehrerinnen. Richter Gnadenlos. Chief Clancy Wiggum. Der längste Mensch der Welt. Rino. Tobi. Tom hat seinen Doktor in Harvard gemacht, zum Glück nur in Medizin, wie Christian und ich unseren Respekt einzugrenzen versuchen. Unsere Apothekerin aus Emmerke ist da. Und hej, Katja. Wir rattern unsere Lebensläufe runter, was und wie und wo, Famile oder nicht, wie ist es so. Ich werde an meinen vorletzten Beinahe-Tod bei der Gratwanderung in Südtirol erinnert, den ich schon weit verdrängt hatte. Tanzen zu alter und neuer Musik. Respekt übrigens, Rolo. Ja, ein netter Abend. Macht's gut, bis demnächst in 15 Jahren. Aber nein, natürlich ist sie nicht da. Letzte Chance, vorbei. 28.6.2003 Neben den lustigen Matrosenanzugträgern vom Christopher Street Day bemerke ich das Top-Thema im Berliner Kurier: »Hamburg erklärt uns den Currywurst-Krieg!« Infam, Berlin seine Banalität und das Recht auf Kriegserklärungen streitig machen zu wollen! Gut, daß Olympia nach Leipzig geht. 25.6.2003 Nachdem ich nun das alter ego von Paprika kenne und eine kleine Theorie über konvertierte Ossis aufgestellt habe (verhalten sich wie Ex-Raucher), muß ich lesen, daß Else Buschheuer nicht nur ebenfalls Online-Notizen zum Besten gibt, sondern auch noch Moby Dick liest. Das scheinen erstaunlicherweise viele zu machen - vielleicht eine Folge all der populären Oberflächenbildungsratgeber und Literaturkanons. Zum Glück bin ich mit dem völlig überbewerteten Stück schon fertig und bereits bei James Joyce. Iren, Ihr wißt schon. . 24.6.2003 Ich erzähl' Ihnen noch eine Horrorgeschichte! Mein redseliger bester Augenarzt von allen informiert mich nicht nur gründlich über das, was er in meinem Auge sieht, sondern auch noch über interessante Katastropen der lokalen Gesundheitspolitik. Mit für 22 Stunden maximal geweiteter Pupille verlasse ich ihn und muß sogar in der U-Bahn Sonnenbrille tragen, was natürlich nicht ganz unkrass ist. 22.6.2003 Danke für den Abend! Nur Christina hat mich kurz aus der Fassung gebracht, als sie den Schleudersitz gesehen hat: Burny, Du bist echt krank - ein elektrischer Stuhl! Heute Kanzler-Currywurst gegessen, dann unfreiwillig Lola rennt gespielt und in 25 Minuten vom Mehringdamm zum Messegelände gekommen. 20.6.2003 Ich darf auf Kosten eines großen Berliner Arzneimittelherstellers für 4 Tage auf ein Seminar im Osten, wo man uns Kommunikationsmodelle beibringt, Lebensratschläge gibt und meditieren oder im See schwimmen läßt. Am 3. Tag wird mir klar, daß ich fast alle von ihrem Typ her irgendwie kenne, was man mir natürlich als Anmaßung von Menschenkenntnis auslegt. Schöne Zeit - Konzerne haben auch ihr Gutes. Abends bekomme ich Besuch aus Kay Ay und erfahre, daß man Franzosen mit offenen Berichten über lesbische Praktiken glauben lassen kann, sie selbst lebten in einem prüden Land. 16.6.2003 Wenn die Ampel grün wird und Deine Fahrerin routiniert Left's free, right's free, taxi! sagt, handelt es sich bei ihr eventuell um Pilotennachwuchs der LH, von dem Du Essentielles lernen kannst. Merke: Wenn Du demnächst mal unter einem Flugzeug langläufst, schau' nicht einfach so nach oben. Macht man nicht, Anfängerfehler. Wenn Du Öl siehst, riech daran. Riecht es nach Kokusnuß, dann ist es Hydrauliköl, was Dir in 30 Minuten die Augen verätzen kann. 13.6.2003 Die Deutsche Bahn AG etikettiert einen handelsüblichen Regionalexpress nach Heidelberg als Militärschnellzug, was in informierten Kreisen eine ausufernde Debatte auslöst, die zu neuen Rabatt-Vorschlägen für das Tarifsystem der deutschen Bahn führt (verlustreiche Rückzüge) und mit der üblichen Diskussion über die Namen zukünftiger deutscher Flugzeugträger endet (Hannelore Kohl, kann nur nachts auslaufen, Franz Josef Strauß, nur süßwassertauglich, dafür aber heimlich atomar bewaffnet)... 12.6.2003 Von einem modernen japanischen Handtelefon bekomme ich das coolste mir bislang bekannte Hochzeitsfoto. Ein norddeutscher Beobachter entdeckt nach Zweifeln an der Authentizität dann den nicht fälschbaren typischen Gesichtsausdruck von frischverheirateten Männern, die sich danach nicht betrinken können. 1.6.2003 Zeit für Musik. In der Maria schauen wir uns eine Band an, deren Sängerin bei der Zugabe zusammenbricht, aber am Boden weitersingt. Ihr seid schon Helden. Dann bricht der Kirchentag mit all den spontanen Sakropop-Singern und ihren Erkennungsbändchen über die Stadt herein, und es ist kein Fortkommen mehr. Wir schaffen es trotzdem zu Nick Cave und den bösen Samen, die eine gute Show hinlegen. Auf dem Rückweg kommt uns an der Warschauer Straßenbrücke ein junger Mensch mit einem Punx not dead-T-Shirt entgegen, der 50m hinter uns schwer angefahren wird und mit blutenden Augen auf den Schienen liegenbleibt. Nachdem sein Überleben sicher scheint, gehen wir weiter und erfahren am Abend noch aus erster Hand allerlei aus dem Leben des Champagnerhändlers Wondratschek. 30.5.2003 Zwischendurch flattert eine Einladung zum 10-Jahre-Abi-93-Feiern herein, nachdem ich nicht mehr damit gerechnet und zudem Grosse Pointe Blank gesehen habe: in diesem Film erscheint ein Profikiller unwillig auf einer derartigen Feier (»Und, was ist aus Dir geworden?« »Ich bin jetzt Immobilienmakler - was machst Du?« »Ich bin Profikiller« »Ah«), und alles endet in einem Desaster. Leider glaube ich nicht, daß in am 5.7. in Ahrbergen eine Jugendliebe aufkreuzt (höchstens eine zurecht komplett unerwiderte aus Baddeckenstedt) und/oder ich bis dahin ein seriöses Handwerk erlernt habe. Aber wer weiß? 29.5.2003 Es wird immer bizarrer, schreibt mein persönlicher Internetberater, und schickt mir einen Bericht über aktuelle Anti-Diskriminierungs-Zensur in amerikanischen Schulbüchern. »Die ältere Person und die große Wasserfläche« von Hemmingway, zugegebenermaßen gewöhnungsbedürftig. Neben dem Kampf gegen Terrorismus und Diskriminierung hat Amerika aber auch anspruchsvollere Ziele: wie ich als Gelegenheits-Schwarzseher gerade auf CNN bemerke, geht es jetzt sogar gegen Skeptiker, weltweit! Stehen uns erbitterte Wortgefechte ins Haus? 16.5.2003 Um den Abstand zur Medienrealität nicht ganz zu verlieren, schaue ich ein wenig fern und muß feststellen, wie sehr sich die Zeiten geändert haben. Früher waren Computer noch interessant, und mit einem einfachen Modem konnte man die coolsten Spiele spielen. Heute darf man sich nicht mehr bei derlei erwischen lassen. Dafür gibt es allerdings orangene schnurlose Mikrofone von arte. Nun noch teure, aber lockere Kleider anziehen, etwas Wein trinken, einen französischem Akzent andeuten und ein Mindestmaß an kulturellem Interesse zeigen, und man wird sich auf jedem gesellschaftlichen Ereignis bestens unterhalten. Harald Schmidt übrigens, der alte Lucky, tut es uns nach und gründet seine eigene Partei. Leider wirkt ihr Auftritt sozialdemokratisch: so werden unsere Probleme nicht kleiner! 21.4.2003 Paris ist eine Messe wert! Im Fotobereich gibt es sachdienliche Hinweise. 17.3.2003 Ich seh den Krieg vor lauter Falken nicht, meinte unlängst ein namhafter Vertreter der Karlsruher Marketing-Elite. Bernhard sieht sich dagegen erstmals als Mann ohne Meinungen in einer Welt von Meinungen ohne Mann - wenn man von jenen Herrn Scholl-Latours absieht, der allerdings keine Meinungen, sondern Gewißheiten besitzt. Vielleicht ist es dann nur konsequent, eine Parallelaktion zum PNAC zu starten? 10.3.2003 Das Internet, dieses launische Wesen, schanzt mir eine Mail aus Frankreich zu, und plötzlich habe ich ein Stück verlorene Vergangenheit wieder, ohne das vielleicht alles ganz anders gekommen wäre: Ich hätte mich nicht weiter mit Computern beschäftigt, der ganze Geek-Kram wäre nie passiert... Doc! Doc Brown! Ich bin's, Marty McFly! Wir müssen nochmal zurück ins Jahr 1955! 9.3.2003 Wieder ein Stück Hannover weniger - die Darwinstraße wird unter großen Feierlichkeiten aufgegeben, und Maarten zeigt bis um 6 Uhr morgens, daß er sich tanztechnisch nicht ewig hinter Christopher Walken verstecken kann. Daneben erfinden wir eine neue Extremsportart - Embassy-Hopping! - um sich die vielen Botschaften mit ihrem interessanten Veranstaltungsprogramm in Berlin mal genauer anzuschauen. Dazu geben wir uns dann als Mitarbeiter vom UN-Weltwasserprogramm aus, falls es das nicht schon gibt. Königsdisziplin wäre dabei natürlich die amerikanische Botschaft... 14.2.2003 Just lese ich zum geplanten Irak-Krieg in der Sensationspresse folgendes : Zu dieser Zeit aber ist Vollmond - was einem Angriff widersprechen würde, da Kriege mit Bodentruppen traditionell eher bei Neumond eröffnet werden. Traditionell wie etwa die Englische Eröffnung beim Schach? Angriffskriege waren doch über Generationen eine deutsche Kernkompetenz - war ich unaufmerksam, oder steht es um das Bildungswesen wirklich so schlecht? 13.2.2003 Ich habe nur Ärger mit meinem Droiden. Aber man darf ja nicht klagen; wir wissen alle, wie schwer es ist, heutzutage gutes Personal zu bekommen. Und einem geschenkten Gaul... 12.2.2003 Im Salon Magazine finde ich Haikus über Systemfehler. Es besteht noch Hoffnung: First snow, then silence. This thousand dollar screen dies so beautifully 01.02.03 Eventuell kann man über White Room Longue Music verschiedene Ansichten vertreten und der Innenarchitektur der britischen Botschaft erstaunliche Orientierungslosigkeit oder gelungene Übertragung Englands ins nächste Jahrhundert nachsagen - über die Eleganz der Treppe zum Empfangssaal und besonders des Schreibtisches darin ist kaum zu streiten. Heute gibt es eine amerikanischere Party, allerdings hängt deren Flagge durch Krankheiten, Entfernungen, akademische Zwänge und Raumfahrtkatastrophen leider auf Halbmast. 26.1.2003 Über dem Mudd Club gibt es eine halb private Party, deren Urheber aber keiner kennt, mit berliner Bier, was kaum trinkbar ist und noch beim Konsum Kopfschmerzen auslöst. Dafür ist die Musik erfreulich altmodisch, kein moderner rappiger Schnickschnack, den man in Trainspotting-Manier mit »es war nicht mehr unsere Musik« kommentieren kann. Später laufe ich um halb vier am Alex vorbei, und der Turm verschwindet mit der Kugel zur Hälfte in der nebligen graubraunen Nacht; alles sehr unwirklich. Die andere Seite des Platzes versprüht eher den Charme eines Gewerbegebietes - heruntergekommene Discounter, Regen, Kälte, Verkehr, Menschen warten auf Busse, die sie endlich heimbringen... 23.1.2003 Houston, we're online again! Nachdem ich dreimal Besuch von freundlichen Kommunikationstechnikern des magentafarbenen Multis hatte (erst alleine, am Ende zu dritt), bin ich wieder vollwertiges Mitglied der westlichen Welt. |
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