Notizen | Postkarten aus Hokkaido

Postkarten aus Hokkaido
April und Mai 2005


Unter uns - 70 ist doch kein Alter mehr!


Natürlich, die Amerikaner sind mal wieder an allem schuld. Früher badeten Japaner gemischt in ihren heißen Quellbädern, dank der prüden Besatzer geht man seit 1945 getrennt zu Wasser - nur im Norden haben sich einige gemischte Onsen gehalten. Vielleicht ja auch der, zu dem uns Yoko bringt? Wir fragen lieber nicht, erst, als wir das Badehaus betreten. Neinnein, natürlich getrennt, sagt die Dame. Persönlich würde sie ja auch gemischt baden, aber sie dachte, wir würden das nicht wollen. Außerdem verpassten wir nichts - die Frauen in gemischten Onsen seien alle häßlich und über 70. Wir glauben ihr kein Wort.

Abends fragt uns der achzigjährige Sushi-Macher, was wir am Tag getan hätten. Ah, Onsen - gemischt? Neinnein, getrennt. Hm, ja, er wäre ja mal in einen gemischten gegangen, um nackte junge Frauen zu sehen - aber die waren alle häßlich und über 70! Seither meidet er gemischte Bäder.






Ländliche Idylle, und heute selten gewordene Arbeit an der frischen Luft


Im Norden des lächelnden Landes lebt der Sowjetjapaner, der große rote Sterne auf stolze Fabrikschornsteine malt, Straßenlaternen kommunistisch verschnörkelt, die Werktätigen mit Hymnen aus öffentlichen Lautsprechern erbaut, seinen Müll nicht allzu zimperlich direkt entsorgt und ganze Küstenstriche malerisch zerfallen läßt. Dazu kommt noch ein rechter Gulag für unzuverlässige Elemente - so hat es der Sowjetmensch gern.

Wie über neun Millionen Japaner seit 1984 besuchen auch wir das größte ehemalige Straflager Hokkaidos, und bestaunen die Ausstellung. Gleich zu Beginn die besinnliche Spiegelbrücke, über die jeder Gefangene das Lager betrat, dann die Architektur des Tores, das Zwischenlager, das Bad, vor allem aber die euphorischen Beschreibungen all dessen auf den Schildern. Sicher, das Leben hier war kein Zuckerschlecken - aber man sagt, die von den Häftlingen eingelegten Rettiche seien die leckersten der Welt gewesen. So also funktioniert er, der unverkrampfte Umgang mit der Vergangenheit.






Eigentlich sind wir ja zum Baden hergekommen


Vielleicht ist der März keine gute Reisezeit. Viele Straßen sind noch gesperrt. Wir aber wollen trotzdem auf einen Berg klettern und erkundigen uns beim freundlichen Herbergsvater, der mit Erstaunen unser Ansinnen zur Kenntnis nimmt. Auf den Berg, ja. Das Wetter ist gerade schlecht. Vielleicht wird es aber nachmittags besser? Nun, der Wanderweg dort ist noch zu tief verschneit. Aber zum Aussichtspunkt darunter könnten wir vielleicht fahren? Der Japaner blickt uns an und fragt höflich: Habt Ihr Schnee in Deutschland?

Dann machen wir eben die Bootstour. In einem sonst touristisch belebten Hafen pfeift der Wind zwischen den Kaschemmen. Wann geht die nächste Fahrt? Die See ist zu unruhig, heute fährt nichts. Und morgen? Morgen nichts. Aber übermorgen? Vielleicht, sagt der Seemann. Wir lesen die Frage in seinen Augen. Habt Ihr eigentlich Wasser in Deutschland?






So cool waren wir schon ganz lange nicht mehr


Japan ist vielleicht fortschrittlicher, nicht aber grundsätzlich anders als Deutschland. Die Grundversorgung männlicher Singles mit Brot und Alkohol, die nach Ladenschluß bei uns durch Tankstellen gewährleistet wird, übernehmen hier flächendeckend die Convenies, kleine 24-Stunden-Supermärkte. Und auch das Ambiente stimmt: Beim nächtlichen Ergänzen unserer Alkopop-Reserven stoßen wir vor einem Lawson auf die Dorfjugend. Sie sitzt zu Bier und Musik in getunten Karren mir sehr großen Spoilern, Zigaretten im Mundwinkel, und ist angestrengt cool.

Wir dagegen programmieren routiniert die 3D-Satellitennavigation für die zwei Kilometer lange schnurgerade Landstraße nach Hause, stecken die Beastie Boys in den CD-Schacht, wählen Sabotage, drehen die Lautstärke zum Anschlag und die Fenster nach unten, drücken Play, und gleiten aus der Parkbucht, ohne uns umzusehen.






Das ist genug Fleisch - wir haben ja noch den Wal


Ein idyllischer See mit Kranichen, dem Nationalvogel. Ein Zeltplatz. Der vogelkundige alte Wärter blickt am Fenster auf den aufkommenden Sturm, die abfliegenden Kraniche und die aufbrechenden Gäste. Ein Auto kommt an. Drei Ausländer steigen aus, die ein Zelt aufbauen, den Grill anzünden und anfangen, ein großes Stück Wal zu braten. Man versichert ihnen besorgt, daß er nur zu Forschungszwecken gefangen und verkauft wurde. Dann holen die Ausländer eine Palette Bier, trinken sie aus, essen den Wal und den Lachs, Kartoffeln, Schwein und Lamm, machen ein Lagerfeuer und trinken dann zwei Flaschen des teuersten japanischen Whiskys aus Pappbechern. Es müssen Russen gewesen sein.






Küstenschutz vor den Skurilen


Der Japaner hat auf verschiedenste Probleme eine einzige, überzeugende Lösung gefunden: Beton. Mit diesem vielfältigen Werkstoff lassen sich Strommasten errichten, Bahnhöfe gießen, Berghänge versiegeln und die gesamten Strände mit großen Panzersperren sichern - angeblich zum Küstenschutz, vermutlich aber doch gegen russische Landungsversuche. Beton ist so beliebt, daß Japan inzwischen schon der Sand dafür ausgegangen ist, der nun aus China importiert werden muß.

Auf einer idyllischen Landzunge vor den Kurilen entdecken wir das geheime Versuchslabor des Betonbauministeriums. Alle 100 Meter finden sich neue Typen und Formen der Panzersperren, und am Ende stoßen wir auf ein improvisiertes, doch in Würde gealtertes Endlager für biologischen Giftmüll. Hier ist er wieder ganz der Russe. Wozu also die Panzersperren?